Der Begriff «psychosozial» wird in der Fachliteratur verstanden als «Die psychischen und sozialen Bedingungen betreffend.»(1) Also beispielsweise die sozialen Ursachen oder Folgen von psychischen Störungen. Im psychosozialen Feld begleiten, beraten und betreuen wir Menschen im gesamten Altersspektrum. Erkrankungen, Sucht oder Behinderung sind ebenso Teil der Lebenswelten wie Migration, Lern- und Verhaltensstörungen, Delinquenz, soziale Konflikte, Krisen, herausfordernde Übergänge und sozio-ökonomische Barrieren.
Diese Definition von psychosozial ermöglicht einen wichtigen und wertvollen Blick auf Wechselseitigkeit zwischen Psyche (Gefühle und Gedanken) und den sozialen (menschlichen) Bedingungen. Gleichzeitig hält uns dieser Blick auch beschränkt und führt tendenziell zu einer Problembeschreibung, in der wir Menschen uns um uns selbst drehen.
Verschiedene theoretische Zugänge denken, hergeleitet aus der Medizin, körperliche Bedingungen mit. So ist z.B. das «Bio-Psycho-Soziale Modell» ein häufig verwendeter Theoriebezug. Im Fachbegriff "Funktionale Gesundheit" werden Körperstrukturen und Körperfunktionen im Sinne sozialer Chancengleichheit für Menschen mit Beeinträchtigungen fokussiert. Und in einer Zeit, in der systemische Ansätze viele Leitbilder von sozialen Organisationen prägen, werden manchmal auch Umweltbedingungen oder Kontexte hinzugezogen.
Aus ökosystemischer Perspektive fällt jedoch auf: wir schauen, analysieren und intervenieren fast ausschliesslich bezogen auf Menschen und im Interesse für das, was Menschen miteinander tun.
In einem Wohnheim für Menschen mit körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen beispielsweise, wissen die Fachpersonen, dass es ein grosses Bedürfnis der Bewohnenden nach mehr Kontakten, nach lebendigen Interaktionen und nach dem Gefühl von Zugehörigkeit gibt. Dieses wird primär sozial interpretiert, also startet die Institution ein Projekt, um mit viel Aufwand, einmal in der Woche die Bewohnenden von zwei verschiedenen Häusern in einer gemeinsamen Gruppenaktivität zusammenzubringen. Das ist wichtig und fachlich auch richtig.
Gleichzeitig bleiben die Dimensionen der Verbundenheit mit dem Ort, der Beziehung etwa zu den Bäumen im Garten, dem Teich und den Vögeln vor dem Fenster, oder die Freude am heraufziehenden Gewitter von den Zielsetzungen Lebendigkeit, Interaktion, Kontakt ausgeschlossen. Wir sehen hier grosse Möglichkeitsräume für die psychosoziale Arbeit und Potential für die Entdeckung neuer und alter Freundschaften. Viele von uns kennen die stärkenden Wirkungen und überraschenden Geschenke, die der Einbezug von Natur, Ort und Landschaft auch für die beteiligten Fachpersonen einspielen kann. Hinzu kommt der Wert von ästhetischen Erfahrungen und sinnlichen Wahrnehmungsreizen, die unsere Denk- und Handlungsmuster, unsere körperliche Verfasstheit und das Eingebettet sein in gegenwärtige Lebenssituationen ungemein stärken können.
Gesetzliche Grundlagen für die psychosoziale Prozessbegleitung gibt es in Deutschland beispielsweise in Strafverfahren. Hier soll qualifizierte Betreuung, Informationsvermittlung und Unterstützung die individuelle Belastung der Opfer reduzieren. In der Schweiz ist dafür der Bereich der Opferhilfe vorgesehen, insbesondere für Kinder und Jugendliche und im Kontext von Gewalt gegen Frauen. Auch im Jugendstrafrecht ist psychosoziale Unterstützung ein wichtiges und gesetzlich definiertes Element.
In allen genannten Beispielen sind Fachpersonen Soziales, Psycholog*innen, Berater*innen, Coaches oder auch interdisziplinäre Prozessbegleiter*innen im Einsatz. In dieser Arbeit bekommen Orte oft eine besondere Dimension, es geht um Tatorte, Betretungsverbote, sichere Orte oder den Neubeginn an einem anderen Ort. Auch das ist ökosystemisch interessant, denn aus dieser Perspektive spricht der Ort immer mit. Was, wenn er eine aktive Stimme im Prozess bekommen würde?
Die gesetzliche Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention wiederum verpflichtet Staaten, Gesellschaft und schlussendlich auch soziale Organisationen dazu, Teilhabe-Orte zu schaffen und Menschen, unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen, die Möglichkeit zu geben, aktiv am gemeinsamen Leben teilzunehmen. In diesem Feld entstehen mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum (Skandinavien ist hier wegweisend) spannende und nachhaltige interdisziplinäre Projekte in denen Sozialraum, Städteplanung, Umweltschutz, Architektur und Psychosoziale Arbeit sich gemeinsam für Atmosphären, für Ortsbeziehungen, für vielstimmige Interaktionen und - wie wir sagen würden - sympoietische Lebensräume engagieren.
Aus dem Fachbereich der sozialen Arbeit heraus, hat sich in den letzten Jahrzehnten mit der Psychosozialen Diagnostik eine Professionsgrundlage für die Fallarbeit entwickelt. Dieses Vorgehen «hat zum Ziel, bio-psycho-soziale Lebenslagen, Lebensweisen und Lebenskrisen sowie deren Veränderungen unter den jeweils gegebenen Kontextbedingungen zu verstehen, um psychosoziale Intervention fachlich zu begründen.»(3)
Neben vielen bekannten und nützlichen Analysemethoden und theoriegeleiteten Fallrelationen, möchten wir dazu ermutigen, die lebendigen Beziehungen mit natürlichen Ressourcen, die Interaktion mit Orten und Landschaften, die Perspektive von Erinnerungen, aber auch die Wechselwirkungen zwischen Menschen und den Dingen, mit denen sie sich umgeben und zusammenleben in die Fallkonstruktion miteinzubeziehen.
Der ökosystemische Ansatz nach Kreszmeier, dem wir im Sympoi Institut folgen, ihn entwickeln und weitergeben, bietet dafür eine fundierte theoretische Einordnung und kennt eine Vielzahl von methodischen Möglichkeiten.
Wir sind an vertieftem Austausch mit den Kolleg*innen im psychosozialen Feld interessiert und stehen für Supervision und Projektbegleitung, für fachliche Kritik und gemeinsames, lebendiges Gewebe gerne als Kooperationspartner*innen zur Verfügung.
Quellen:
(1) vgl. www.pschyrembel.de/psychosozial/P03P7, 23.03.2025
(2) Zitat einer 13-jährigen, vgl. Kreszmeier, 2021, Natur-Dialoge, S. 231f
(3) vgl. www.socialnet.de/lexikon/Psychosoziale-Diagnostik, 22.03.2025
Die sympoi Praxispost erscheint 3-4 jährlich an einen ausgewählten Email-Verteiler. Jede Ausgabe widmet sich einem bestimmten Fachbezug oder einem Praxisfeld. Von dort ausgehend, erkunden wir ökosystemische Anwendungserfahrungen, Fragen und Theoriebezüge. Hier zum nachlesen und jederzeit zu abonieren: institut@sympoi.ch
So erzählt Dario Blöchlinger aus seiner Arbeit im Rehabilitationszentrum Lutzenberg. Konstanze Thomas war mit ihm, und mit Elke Pieber naturdialogischer Wanderführerin in der Steiermark, im Gespräch.
Ein Blogbeitrag zum ökosystemischen Arbeiten in sozialpädagogischer Praxis.
Peter Forster arbeitet im Casa Fidelio, männer-spezifische Suchttherapie im Kanton Solothurn. Naturtherapie wird dort seit mehr als 15 Jahren besonders empfohlen. Nachzulesen in seinem Artikel im Buch: Naturgestützte Interventionen.
Im Audiointerview mit Sinha Weninger erzählt er von dieser Arbeit.
war das Thema des letzten Treffpunkt Soziale Diagnostik an der FHNW in Olten. Sinha Weninger hat in ihrem Beitrag Einblicke zu ökosystemischen Methoden und Erfahrungen gegeben. Danke für den wertschätzenden Austausch und die schönen Feedbacks zum "Missing Link" von den Kolleg:innen aus Praxis und Forschung.