Elke Pieber lebt und wirkt in Graz und Umgebung, ist unter anderem Systemische Lebens- und Sozialberaterin und Bergwanderführerin und schreibt über sich: «Ich habe über 20 Jahre als Sozialarbeiterin in sozialpsychiatrischen Zentren für Erwachsene, Kinder und Jugendliche in Graz gearbeitet. Ein weiterer Schwerpunkt war und ist die Beratung von Familien mit psychisch erkrankten Eltern und Workshops zu diesem Thema. Seit über 10 Jahren führe ich regelmässig Touren im Auftrag einer unabhängigen Peerbewegung für psychische Gesundheit in der Steiermark durch und organisiere und begleite Menschen, die mit einer psychischen Erkrankung leben, auf Wanderungen. Dabei bin ich von Herzen Menschen und Natur zugewandt, erforsche und finde mit Vorliebe Wege im äusseren Gelände und in inneren Landschaften, behutsam und beständig, in der gemeinsamen Bewegung Schritt für Schritt über Berg und Tal, durch Wald und Wiesen, an Quellen und Bächen.»
Dario Blöchlinger lebt und arbeitet in der Ostschweiz, ist Zimmermann, Sozialpädagoge und Alpinist: «Ich arbeite im Rehabilitationszentrum Lutzenberg im Kanton Appenzell Ausserrhoden, einer hügeligen Region mit Seesicht. Das Zentrum verbindet über vier Jahrzehnte Erfahrung in der stationären Suchtarbeit, es ist auf die ganzheitliche Rehabilitation von Menschen mit Suchtproblematik spezialisiert und bietet moderne, zielgerichtete sowie individuelle Therapieangebote. Die Klientel umfasst suchtgefährdete und abhängige Jugendliche und Erwachsene im Alter von 14 bis 45 Jahren mit einem Bedarf an sozialer und beruflicher Rehabilitation sowie individueller Unterstützung. Freiwilligkeit ist bei allen Klient*innen (offenes Setting) gewährleistet – unabhängig davon, ob sie sich selbst eingewiesen haben oder zugewiesen wurden.»
Konstanze: «Liebe Elke, lieber Dario! Manchmal fällt es gar nicht so leicht, das, was man in Weiterbildungen lernt, ins eigene Arbeitsfeld zu intergrieren. Wie ist es Euch gelungen, ökosystemisches Arbeiten zu lancieren?»
Elke: «Bei mir war da wohl eher ein Trickster am Werk! Im Rahmen meiner Tätigkeit als Sozialarbeiterin eines Psychosozialen Zentrums in Graz war ich zu einem Vernetzungsgespräch beim Gründer der Peerbewegung. Ich habe ihn auf die Bergfotos an der Pinnwand hinter seinem Schreibtisch angesprochen und bin mit einem Auftrag zur ,Durchführung von dem Befinden der Peers gemässen Wanderungen‘ aus dem Büro herausgekommen.»
Dario: «Ich habe einfach den Vorschlag von erfahrungsorientierten Gruppenangeboten gemacht, da hatte niemand was dagegen und so begann vor sechs Jahren mit dieser Tätigkeit im Rehazentrum im sozialpädagogischen Bereich auf den Wohngruppen. Schritt für Schritt baute ich das aus und implementierte Ateliertage mit Kleingruppen, in denen wir in Naturräumen forschen und entwickeln. Parallel zu meinem eigenen Weiterbildungsprozess bei Sympoi integrierte ich neue Gefässe wie Time-Ins und Einzelbegleitungen nach dem ökosystemischen Ansatz.»
Konstanze: «Sicher könntet ihr viele Geschichten von einzelnen Ereignissen, Begegnungen, Überraschungen erzählen. Wie würdet ihr die Wirkungen der naturdialogischen Arbeit beschreiben?»
Dario: «Vor allem wirkt die Natur als zusätzliche Mitarbeiterin, wodurch stets ein Hauch von Abenteuer entsteht! Die ökosystemische Arbeitsweise ermöglicht es, menschliche Beziehungen in Verbindung mit der natürlichen Umwelt erlebbar zu machen. Dies lädt dazu ein, eigene Lebensthemen in der mitgestaltenden Natur zu bearbeiten und sich als Teil eines größeren Ganzen wahrzunehmen. Durch den Einbezug von Landschaften oder die Arbeit mit Elementen kann die Wiederverbindung zum Lebendigen bei Menschen mit Suchtvergangenheit angeregt werden.
So bietet die Naturtherapie im Bereich der Suchtarbeit besondere Entwicklungschancen, indem sie bewegende Erlebnisräume schafft, kreative Techniken einsetzt und neue Erfahrungswelten eröffnet. Die betroffenen Menschen erleben sich als Produzierende statt als Konsumierende. Und nicht selten übertragen sie die gewonnenen Erfahrungen in ihre eigenen Lebenswelten: selbstorganisierte Waldspaziergänge, Bergwanderungen, Besuche wilder Bachlandschaften, Schneeschuhwanderungen oder der Beitritt zum Kanuclub sind einige Beispiele.»
Elke: «Im Vorfeld muss ich viel organisieren und prüfen, was wirklich machbar ist und die Menschen nicht überfordert. Bei der Planung respektiere ich, dass Teilnehmer*innen teilweise schon jahrelang Medikamente einnehmen und daher möglicherweise in der körperlichen Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt sind. Es hat sich gezeigt, dass Wandertouren von ca. 3 Stunden mit maximal 300 Höhenmetern und von ca. 10 km als Tagestour gut machbar sind. Vielen fällt es auch schwer, am Morgen aufzustehen und irgendwohin zu kommen. Es ist nicht selbstverständlich morgens früh „fit“ zu sein, wenn Schlafmedikation benötigt wird oder Nebenwirkungen anderer Medikamente spürbar sind, die jahrelang eingenommen werden müssen. Ehrlich gesagt habe ich immer vollen Respekt für alle Wander*innen, die dann tatsächlich am Treffpunkt dabei sind.»
Konstanze: «Das klingt jetzt nach einem rechten Aufwand an Abklärung und Fragen, die Du beachten musst. Lohnt sich das dennoch, kannst Du Dich und können sich die Teilnehmenden von diesem Fokus auf ihre Einschränkungen lösen oder nehmen so genannte Diagnosen durch den Raumwechsel noch mehr Aufmerksamkeit ein?»
Elke: «Nein, nein die Diagnosen kommen hier kaum zu Wort;-) Lebensgeschichten entfalten sich, Gesundheits- und Krankheitserzählungen, während wir miteinander auf den Wegen durch Wald und Wiesen ziehen. Häufig kommen im Wald Kindheitserinnerungen auf, Erzählungen von der Wahrnehmung des Lebens vor der Erkrankung. Unterwegs auf unseren Wegen entsteht Vertrautheit in der Eigenzeit des Waldes, der Natur. Manchmal sind besonders kräuterkundige Teilnehmer*innen dabei, manches Mal Vogelstimmenkundige und wir lernen alle was dazu. Wir gehen, lauschen, betrachten, schnuppern…»
Konstanze: «Welche Feedbacks bekommt ihr von den Teilnehmer:innen, was erzählen sie über diese Erfahrungen?»
Dario: «Viele Suchtklient:innen berichten, dass sie durch die Natur wieder einen Zugang zu sich selbst finden und ihre körpereigenen Hormone wie Serotonin, Dopamin, Adrenalin und Endorphine bewusster wahrnehmen – eine Regulation, die sich durch die Suchtthematik oft verschoben hatte. Andere erfahren Spiritualität und sprechen von tiefgehenden, beseelten Begegnungen mit und in der Natur.
Wir haben ein Interview mit Jannu gedreht, einem unserer Klienten, er beschreibt seine Erfahrungen im Rehazentrum und auf sehr schöne Weise auch, was ihm in der Natur «geschieht». Er greift hier sprachlich eine erlebnispädagogische Ebene des Unterwegsseins auf, es fällt den Klient:innen meist leichter, von konkreter Naturerfahrung zu berichten. Aber ich denke, dass man zwischendrin auch hört, wie sich seine Beziehung zum Raum verändert hat und auf diese Weise auch zu sich selbst und den Menschen um ihn herum.»
reha-lutzenberg.ch/aktuelles/jannu-ueber-die-reha-lutzenberg/
Konstanze: «Danke für diesen Einblick, das ist ein berührendes Dokument. Wenn ich das schaue, dann wünschte ich mir, dass solche Möglichkeiten vielen Menschen zu Gute käme.»
Dario: «Ja, das wäre super. Ich habe inzwischen schon viele begleitet, aber diese Arbeitsweise ist - wie alle anderen auch - nicht für alle das Passende. Was aber auch spannend ist, ist die Ausstrahlung solcher Erfahrungen ins ganze Rehazentrum: Wiederkehrend integrieren die Klient*innen bestimmte Sequenzen in ihren Alltag. Dies zeigt sich in der bunten Feuerküche auf den Wohngruppen oder bei regenerierenden Momenten an natürlichen Plätzen rund um das Zentrum. Interessanterweise hat sich die gesamte Freizeitgestaltung in den vergangenen Jahren verändert: Neben urbanen Angeboten wie Kino, Shopping oder Restaurantbesuchen nutzen Klient*innen zunehmend die Naherholungsgebiete der Natur und deren Möglichkeiten. Sogar die exzessive Konsumspirale in unserem Zentrum ist laut Statistik rückläufig. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Menschen, die regelmässig Momente in der Natur erleben, keine oder deutlich weniger toxische Konsumerlebnisse generieren.»
Konstanze: «Elke, Du triffst die Wandergruppe nur jeweils für die einzelne Aktivität, begleitest die Menschen nicht in ihrem Alltag, erhältst Du dennoch Feedbacks, ob und wie sie die Naturerfahrungen einflechten ins Leben?»
Elke: «Es gibt ja inzwischen einige ‘Stammgäste’; im Wissen, welcher Kraftakt das Kommen für Einzelne ist, ist das ein sehr schönes Feedback. So genannte Feedbackrunden triggern eher negative Institutionserfahrungen und verfestigen das Lebensgefühl für immer eine „Patient:in“ zu sein – das lasse ich im Gruppensetting eher aus. Es ist nicht sehr differenziert, aber zusammengefasst denke ich manchmal: Wenn beim Abschied die Wangen rosig und die Ohren rot leuchten ist zu spüren, dass die lebendigen Erfahrungen dieses Tages in Körper (und Seele) angekommen sind.
Konkrete persönliche Rückmeldungen bekomme ich vielfach in Einzelgesprächen während des Wanderns. Zum Beispiel höre ich dann, dass dieser Wandertag ein nachhaltiger Impuls war, wieder mehr in die Natur zu gehen, sich wieder auf Begegnungen verschiedenster Art draussen und mit sich selbst einzulassen. Die Wandertouren sind in der Regel mit Öffentlichen Verkehrsmitteln machbar und werden von Einzelnen auch ‘nachgewandert’.»
Konstanze: «Mich beeindruckt, was ihr berichtet und wie es Euch gelingt, die gewonnene Erfahrung und Kompetenz aus den Weiterbildungen so umzusetzen. Habt ihr noch einen Impuls, einen Hinweis, der andere ermutigen könnte, beherzt Versuche zu unternehmen, eine solche Art von Arbeit in ihrem Berufsfeld einzubringen?»
Dario: «Ich glaube, naturdialogisches Wirken will in etwas Lebendiges eingebettet sein. Es versteht sich als Teil einer größeren Disziplin und möchte darin bewusst seinen Platz einnehmen. Es geht darum, wahrzunehmen, was um dich herum wirkt, welche Rolle du darin hast und wie du deiner Aufgabe im naturdialogischen Verständnis gerecht werden kannst.»
Elke: «Genau! Mit naturdialogischem Arbeiten bietet sich ein Wahrnehmungsraum des ‘wechselseitigen Schwingens’ zwischen Menschen und Naturen an – jenseits von Diagnosen und schicksalshaften Lebensverläufen. Dadurch können sich überraschende Zwischenräume für spontane Veränderungen im Lebensgefühl eröffnen. Das ist doch voll attraktiv! Und ich sehe meine Aufgabe im besten Sinn darin, diesen Raum zu offerieren und zu halten und in Verantwortung die entstehenden Prozesse zu begleiten; und mir selbst der komplexen Wechselseitigkeiten bewusst zu bleiben. Auf Augenhöhe lebendiges Erden(er)leben eben ;-)»
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