"Zeitlicher Analphabetismus" - dieser Begriff hat mich zu Marcia Bjornerud und ihr Buch Zeitbewusstheit (2022, Matthes&Seitz) gelockt. Hätte ich gewusst, dass es sich um ein Lehrbuch geologischen Schauens handelt, hätte ich es vorbei ziehen lassen. Durch den metaphorischen Trickster jedoch, bin ich in die Tiefen der Erde gefallen. Welch Glück!
Die Geologin Marcia Bjornerud führt in Zeitbewusstheit durch mehr als 4,5 Milliarden Jahre Erdgeschichte. Profunde Fachkenntnis, angereichert mit persönlichen Geschichten, direkter und bilderreicher Sprache, in entschiedener und doch nie moralischer Haltung gestaltet sie die Reise von den Anfängen unseres Planeten bis ins Heute. (An der Stelle will auch die hervorragende deutsche Übersetzung von Dirk Höfer erwähnt sein.)
Die Geologie und mit ihr die Beforschung von dem, was vor dem Erscheinen der Menschen hier auf Erden "geschah", hat(te) inmitten religiöser Überzeugungen in Sachen Schöpfung, aber auch unter dem Klima der "reinen" labororientierten Wissenschaften einen schweren Stand. So reiften viele Erkenntnisse in Bezug auf die Erde und ihre tektonischen und atmosphärische Entwicklungen erst in den letzten 50 Jahren.
Zusammen mit einer ausgeprägten menschlichen Selbstbezogenheit, die Geschichten ohne menschlichen Protagonisten wenig interessant findet, hat geologisches Denken keine grosse Lobby.
Geologisch denken bedeutet, sich nicht nur das, was auf der Oberfläche liegt, vor Augen zu führen, sondern auch, was unter der Oberfläche liegt, was vorher war, was gewesen ist und was sein wird.
S. 34
Wer geologisch wahrzunehmen weiss, erkennt im Stein nicht nur ein Substantiv, sondern das Geschehen, das ihm in wandelnden Umgebungen widerfahren ist. Er, sie, es erfährt den Stein als Verb. Das ist nun schon hohe Kunst, denn eine "Eine widerwillige Haltung gegenüber der Zeit, trübt das individuelle und gesellschaftliche Denken."(S. 13)
Diesem Denken fehlt der Sinn für Proportionen und dafür, in welcher ökologischen Einbettung unser Handeln seine Wirkungen entfaltet. Die Tiefenzeit - ein Begriff für die vorarchäologische Vergangenheit - will also erst erschlossen sein. Vielleicht ist sie die Terra Incognita des 21. Jahrhunderts?
Im Kapitel Atlas der Erde erzählt Bjornerud von Messungsverfahren, von Erdalter, Erdschichten, von Ableitungen von Erdbewegungen und dem Prozess der Kartierung, die auf das Zusammenspiel von Vielen angewiesen ist.
Viel Fachbezogenes blieb mir in diesem Kapitel verschlossen und doch verstehe ich um ein Vielfaches mehr als davor. Auch wenn ich in grossen Teilen noch immer eine zeitliche Analphabetin bin, so doch sensibilisiert, ja begeistert für die ungeheure Geschichte all der Zeiten, die die Erde formten. Es ist wie die Liebe zu Buchstaben, die einem die Ahnung vermitteln, dass sie miteinander und zueinander gestellt, ganz neue Welten auftun können.
Vor vielen Jahren ist es mir in Patagonien geschehen: Beim Blick auf eine Bergkette konnte ich plötzlich sehen, in welch fliessender Bewegung sie ist. Weder betrunken noch sonst wie animiert und doch haben mich die Berge an ihrer Veränderlichkeit teilhaben lassen. Das hat meinen Blick auf die Welt und meine Bewegung in ihr massgeblich verändert, verlebendigt möchte ich meinen. Jedoch hat meine Empfindung für die Bewegung der Erde spätestens an Meeresküsten halt gemacht. Um so vieles augenfälliger waren und sind dort die Wellen des Wassers. Aufregend genug.
Dass darunter ein Erdmantel sein muss, ein Becken für die Ozeane, ist zwar selbstverständlich, aber wie vieles Selbstverständliche vergessen. Auch dass diese Unterwassererde sich ebenso bewegt wie die Landerde. Sie bewegt sich nicht nur, sie wälzt sich um!
"Etwa alle 200 Millionen Jahre wälzt sich der Mantel wie eine gargantueske Lavalampe, angetrieben durch thermische Konvektion, einmal um." (S 80) So hatte ich das noch nie gesehen, noch nie empfunden und das macht wahrlich einen Unterschied. Mein Gang ins Meer war ab da ein anderer.
Tempo der Erde hat noch etwas Wesentliches nahegebracht: nämlich die unheimliche Kraft der Anomalie des Wassers, ja überhaupt des Wassers! Denn offenbar ist es nicht nur so, dass sich der Ozeanbeckenerdmantel wälzt, sondern dass sich dabei in etwa 8 Millionen Jahren das Gesamtvolumen der Ozeane durch das Gestein spült.
Dabei fliesst das Wasser nicht nur durch die verzweigten Furchen, Rinnen und Kanäle des Gesteins, sondern bleibt auch bis zu 100 Mio Jahren tief im Erdinneren eingeschlossen. Diese Wassereinschlüsse senken den Schmelzpunkt, sorgen für ein tieferes Absinken, dann für ein gewaltiges Aufbrechen und Ausbrechen von Vulkanen.
Das alles liest sich spannend wie ein Krimi. Und so geht es auch weiter, wenn sie von den Bedingungen spricht, die die grossen Gebirge der Erde gehoben haben, aber das solltet ihr selbst lesen, ab S 90. Doch etwas Bemerkenswertes will ich auch in diesem Buchteil herausgreifen:
Dass die additiven und subtraktiven Prozesse der Landschaftsbildung, einander etwa entsprechen, stellt eine der ungewöhnlichen Eigenschaften der Erde dar.
S. 97
Diesen Satz musste ich einige Male lesen. Nicht weil er so schwierig zu verstehen wäre, sondern weil es doch grossartig ist, und die Erde von anderen Planeten unterscheidet: Dass die der Erde innewohnende tektonische Kraft sich mit den externen Erosionseinflüssen die Waage hält. Und dass Wasser, Gebirge, Carboneinlagerungen und vieles mehr eine riesige ökosystemische Wundertüte ausmachen und wir Menschen da mittlerweile sehr wirkkräftig, aber kurzsichtig handelnd mittendrin mitspielen.
lautet das nächste Kapitel, das in jenes für uns Menschen so bedeutsame Zeitalter einführt: in den Übergang von einer Umwelt ohne freien Sauerstoff zu einer "schönen neuen Welt". Das allerdings hat nach der sogenannten Sauerstoffkatastrophe - also dem Freiwerden von Sauerstoff, das die gesamte Oberflächenchemie des Planeten umgewälzt hat, ewig lang gedauert, all in all 3 Milliarden Jahre.
In der Zeit hat sich das Bändererz abgelagert - jene Eisenbindung, die für die gesamte Stahlförderung auf der Erde zuständig ist. Es entstanden neue biochemische Kreisläufe und von den ersten fotosynthetisierenden Organismen ausgehend auch neue Lebensformen. Hier zitiere ich gerne wörtlich:
In einer strategischen symbiotischen Verschmelzung fusionierte zudem eine kleine biologische Fabrik namens Mitochondrium, der es gelungen war, Sauerstoff zu verarbeiten, mit einer grösseren Zelle und begründete damit die Linie der Eukaryoten, die schliesslich zu den Pflanzen und Tieren wurden.
S. 127
Wie schön strategisch-symbiotisch! Ich vermute, hier hat sich die Sympoiese erfunden! Und noch ein Beispiel für Bjorneruds Weise geologische und politische Sprachbilder miteinander spielen zu lassen.
Die Geschichte der Atmosphäre ist unauflöslich mit der Geschichte des Lebens verbunden. Das Leben selbst hat sich die moderne Atmosphäre geschaffen, hat in gewissem Sinn die eigene Verfassung geschrieben.
S. 117
Dieses Schreiben und Umschreiben der eigenen Verfassung hat selbst nach der grossen Umwälzung noch eine schlappe Milliarde gedauert, in der sich nichts Besonderes nachweisen lässt, ausser dass es sie gegeben hat. "Es war vielleicht eine langweilige Zeit, aber sie war produktiv, was die Entwicklung von Infrastruktur angeht, und steht damit für eine weitere Lektion, die wir Erdenbewohner mit Gewinn übernehmen könnten. (S. 133)Sich Zeit lassen in der Entwicklung von Infrastruktur. Ja. Gute Idee.
Diese bedächtige Ausformung von Infrastruktur hat wohl dazu beigetragen, dass die Erde und ihre Lebewesen und Lebensnetzwerke, die nachfolgenden dramatischen Beschleunigungen und Veränderungen, samt den Folgen von Massensterben "überlebt" haben.
Auf diesen Seiten werden die unterschiedlichen Bedingungen und Verkettungen von Bedingungen dargestellt, die zu dramatischen Ereignissen auf dem Erdball führten. Er hat massive Schwankungen vom Feuerball zum Schnellball und retour durchgemacht, ehe sich die Atmosphäre der Erde vor in etwa 12000 Jahren stabilisierte.
Vor diesem Hintergrund thematisiert Bjornerdu das Konzept des Anthropozäns und erläutert auf welch massive Weise besonders in den letzten 200 Jahren sich menschliche Aktivitäten in die abbauenden und aufbauenden Erdprozesse einmischen. Das ist an Erosion und Sedimentierung, am Anstieg des Meeresspiegels, der Veränderung der Chemie der Ozeane, der Aussterberaten, der Kohlenstoffdioxidrate und an Stickstoff- und Phosphoreintrag in Seen messbar.
Beindruckend bleibt Bjorneruds Ton. Sie spricht über diese Dinge mit fachlicher Klarheit, Entschiedenheit, lässt sich nie zu apokalyptischen Weissagungen hinreissen, aber ebenso nicht zu Beschönigungen.
Verblendet von unseren eigenen Kreationen, haben wir vergessen, dass wir vollkommen in eine viel ältere, viel mächtigere Welt eingebettet sind, deren Konstanz wir als selbstverständlich vorausgesetzt haben.
S 187
Hier, im letzten Abschnitt des Buches nimmt Bjornerud den zeitphilosophischen Faden unter Bezugnahme auf Bruno Latour wieder auf. Dieser hat der Moderne ein Denken attestiert, das den Lauf der Zeit so versteht, dass es die Vergangenheit hinter sich abschafft. Die Moderne glaubt an eine Gegenwart, die aus radikalen Umstürzen hervorgegangen ist und nichts mehr an Vergangenheit in sich trägt. Hinwendungen zum Vergangenen sind ein Zeichen der Schwäche, der Dummheit, der Sentimentalität. So werden wir nicht nur zu Gestrandeten auf der Insel des Jetzt, sondern:
Unsere Blindheit für die Gegenwart der Vergangenheit macht uns blind für die Zukunft.
S. 194
Sie nimmt Bezug auf Konzepte aus drei Kulturräumen, dem Sati aus dem Buddhistischen, dem Sankofa aus dem Westafrikanischen und dem Syrd aus der nordischen Mythologie. Sie alle sprechen von der Verschränktheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - das heisst auch der Polytemporalität des Hier und Jetzt.
Wir verweilen nicht nur in einer biografischen, sondern auch in einer geologischen Zeit. Das zu erinnern, weitet Felder. Es nachhaltig zu vergessen und technischen Lösungen, deren Folgen niemand abschätzen kann, zu vertrauen, ist fatal.
Sie streift durch Kunstprojekte und ökologische Projekte (hier könnte sich unsere ökosystemische Therapie- und Beratungsarbeit auch einreihen), die der Zeit wieder Raum geben - Bewegungen gegenüber einer nahezu autistischen Beziehung zur Erde. Sie schliesst mit einem Apell der Hoffnung.
Aber die Erde spricht überall zu uns.
Wir müssen denken wie ein Berg (Aldo Leopold) im Bewusstsein aller Verhaltensweisen und Bewohner dieser uralten, komplizierten und sich endlos weiterentwickelnden Planeten.
S. 212
Ich möchte keine Seite dieses mehr als 200 Seiten reichen Buches missen. Weder jenes Wissen, das ich nicht verstehen konnte (wie die Berechnungsmethoden der Zeitbestimmung in Gesteinen), noch die vertrauten Resonanzen. Es hat mich auch beschämt, weil ich als bekennendes Erdlebewesen (Erdling) und eine, die noch dazu meint, etwas über heilsame Natur-Beziehungsprozesse sagen zu können, doch so wenig Tiefenzeitahnung habe.
Es war ein topologisches Geschenk, dass mich dieses Buch auf Lanzarote begleitete, einer Insel, die durch die vulkanische Präsenz direkt und unmittelbar beigetragen hat zum Tiefersinken eines begreifenden Empfindens von Erdzeit.
Als direkt persönliche Zugaben kamen mir die Bezüge und Zitate im letzten Abschnitt nahe: Die Störgeschichte, Bruno Latour und ganz zuletzt noch Aldo Leopold, der auch in die Natur-Dialoge (Kreszmeier, 2021, S 198) Einzug hielt. So haben sich Fäden des Forschens ineinander verschränkt und ermuntert tiefenzeitlich weiter zu forschen.
Astrid Habiba Kreszmeier, Lüchingen, März 2024