Vorweg

Innerhalb unseres Wirkungsfeldes, das sich im Bereich von Natur und Heilung seit Jahrzehnten auch in und mit Brasilien entwickelt, sind die Beiträge und das Werk von indigenen Aktivist*innen und Intellektuellen von grosser Bedeutung. Im Dialog mit ihnen lernen wir Wesentliches, im gegenseitigen Respekt und in ebensolcher Wertschätzung entstehen tragende Verbindungen.
Im Folgenden findet sich das Nachwort zu Ailton Krenaks Buch "Ideias para adiar o fim do mundo", das vom  brasilianischen Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro verfasst wurde, und wir mit seiner freundlichen Genehmigung ins Deutsche übertragen haben und hier veröffentlichen.
Wer sich vertiefend für das Wirken von Ailton Krenak interessiert, dem sei der Beitrag von Dorothea Kurteu im Sanzala Blog empfohlen: Träumen als Provokation der Einen Idee

Mit besten Wünschen, Astrid Habiba Kreszmeier, Juli 2020

Nachwort zu Krenaks "Wie man das Ende..."

Dieses kurze und unprätenziöse Buch von Ailton Krenak wird – so hoffe ich – als Ausdruck einer der wichtigsten politischen Stimmen des gegenwärtigen Brasiliens angesehen werden. Gemeinsam mit anderen Intellektuellen und indigenen Aktivisten wie Davi Kopenawa und Daniel Munduruku schreibt Krenak ein essentielles Kapitel der brasilianischen Geschichte, und zwar jenes, das « die Geschichte der Entdeckung Brasiliens aus der Perspektive der Indios» erzählt. Eine indigene Gegen-Geschichte, eine Gegen-Anthropologie, die ihre Aufmerksamkeit zentral auf die Dominanzkultur der staatlichen Nationen lenkt, die über die einheimischen Völker dieses Erdteiles hergefallen sind.

Das Thema dieses Buches und auch anderer seiner Texte – da Krenaks wesentlichste Ausdruckform das Gespräch und die Rede ist, handelt es sich nahezu immer um Mitschriften von Vorträgen und Interviews – weist jedoch auch weit über Brasilien hinaus: es sind Reflexionen zu den anthropologischen Vorannahmen jener Zivilisation, die sich als Zugpferd der «Menschheit» versteht, und über ihre Auswirkungen auf die körperliche, materielle und spirituelle Existenz aller Völker, Gattungen und Wesen dieser Erde.

Die Frage, mit der sich Ailton Krenak an die Leser wendet, ist so einfach wie beunruhigend: «Sind wir wirklich eine Menschheit?»
Sie wird ausdrücklich in zwei Varianten formuliert:
Sind wir wirklich eine Menschheit (und nicht etwa eine nicht zu vereinfachende Vielfalt von sozialen und kulturellen Lebensformen)?
Sind wir eine Menschheit (und nicht ein wechselseitig verwobenes Gewebe von Menschlichem und Nicht-Menschlichem)?

Und während wir nach Antworten suchen, fragen wir uns: «Wer ist dieses ‘Wir’ in Krenaks Frage? Wäre nicht die eigentliche Frage «Wer seid ihr, die ihr mich lest?», anstatt von einem ‘Wir’ zu sprechen?

Also, wer sind wir? In Bezug zu wem sind wir ein Wir? Oder in Bezug zu was?

Die Frage zur «Menschheit, die wir zu sein meinen» ist immer auch eine Frage nach Beziehungen. Nach den Beziehungen, die uns bedingen und die uns zu einem essentiell veränderlichen «Wir» machen, sowohl im konkreten Raum also auch im Bewusstsein. Für manche von uns – zum Beispiel für unseren Autor – gehören unter anderem Steine, Berge und Flüsse zu diesem «Wir».

Einer der Kernpunkte in Ailtons Ideen ist die Weigerung jenen Überzeugungen zu folgen, die uns das Ende der Welt als unsere Rettung weismachen. Er sieht in allen indigenen Völkern vehemente Gegensprecher zur Kantschen Maxime rund um Mittel und Zwecke jener «Menschheit, die wir zu sein meinen», der ausschliesslich menschliche Personen angehören sollen, da sie als die einzigen Wesen der Erde mit Vernunft ausgestattet sind. Alles Übrige sind einfach Mittel, über die wir Menschen verfügen können, also Dinge.

Diese kantianische Unterscheidung ist jene grosse Geste des Ausschlusses, die weniger die Menschenwelt, denn viel mehr die Dingwelt festlegt, nämlich als blosses Mittel, oder noch genauer als Markt-Mittel. Krenak erinnert daran, dass das Volk der Yanomami von Davi Kopenava die Weissen als «Volk des Handels» sieht, als jene Personen, sie sich über die Dinge definieren. Als jenes Volk, das seine Mittel in Zwecke verwandelt hat.

Aber wozu all diese Fragen? Die Antwort findet sich offenkundig im Buchtitel: Um das Ende der Welt, das vor unserem zeitlichen Horizont sichtbar wird, ein wenig aufzuschieben. Jenes Weltende, das es aufzuhalten gilt, geht Hand in Hand mit dem Konkurs einer gewissen Idee von Menschheit. Jener Idee, ja jenes Projektes, das die metaphysische Entwertung der Welt zur Grundlage möglichen Handelns und deren Vertreter zu Agenten der Zerstörung dieser physischen Welt (und unzähliger anderer Welten und Wesen) machte. Eine solche Idee von Menschheit, die sich auf die fundamentale Unterscheidung von Menschen und allen übrigen irdischen Wesen stützt, macht jene Menschen und Völker, die sich dieser Unterscheidung nicht anschliessen, zu einer Art Unter-Menschheit. Kaltgestellt an den Rändern der Stadtkulturen,  wo sich das Menschliche in der Dunkelheit der Natur verliert, werden sie zu unbedeutenden Zeichen, Punkten, Strichen.

Es liegt also an jenen Lebensformen, die ungetrennt Erde-Gaia ein anderes Mensch-Verständnis in sich tragen, aufzuzeigen, wie es tatsächlich möglich sein könnte, jenes drohende Ende aufzuschieben.  Wege zu zeigen, wie man aufhören könnte daran zu glauben, dass man nur weitermachen und sich beeilen muss und es bald gelingen wird, sich die Erde vollends passend zu machen. Das eine Weltende hinauszuzögern ist notwendig, weil wir wissen, dass es auch ein anderes Weltenende geben könnte. Das Ende der aktuellen Weltsicht etwa, das durch ihre Verneinung hervorgerufen zu einer anderen Welt führt. Einer neuen Welt, die schöner als wir es uns vorstellen können aus den Trümmern der alten wachsen wird. 

So zeigen sich gerade jene Völker, die wir als Überbleibsel aus unserer menschlichen Vorvergangenheit betrachten, Völker, die gezwungen sind inmitten der Ruinen ihrer eigentlichen Lebenswelten zu überleben, unverhofft als Vorbilder unserer eigenen Zukunft.

Und plötzlich gewinnt der Begriff «Überleben» eine andere anthropologische Bedeutung als von Edward Taylor … gedacht. So betont auch Krenak: «Wir, die indigenen Völker, wir überleben seit fünf Jahrhunderten den mörderischen Humanismus des Abendlandes. Jetzt aber sind wir besorgt über euch Weisse, werdet ihr ihn überleben?» Er spricht hier ausdrücklich von Brasilien, also von dem zunächst drohenden und letztlich erfolgten Einzug einer Regierung, die auf brutale Weise Naturräume und Völker tötet. Jedoch kann seine ironische Beunruhigung durchaus auf die ganze sogenannte «zivilisierte Welt» ausgedehnt werden, die heute unter der doppelten und gekoppelten Bedrohung eines faschistischen Revivals und einer globalen ökologischen Katastrophe lebt.

Die Beziehung zwischen dieser Menschheitsidee und dem Auftauchen eines «Weltendes» verstanden als gegebene Richtung, auf die das anthropozentrische Erdzeitalter hinauslaufen wird, verweist letztendlich auf die ontologische Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz, die in der sogenannten «Achsenzeit»* ihren Anfang nahm. Seit die axialen Völker diese Trennung verinnerlicht haben, findet sie ihren äusseren Ausdruck in den Eroberungskriegen und der Auslöschung der Völker der Immanenz: von der Missionierung der Heiden, bis zur Jagd auf Hexen, vom Kolonialismus bis zur Gobalisierung.Das gleichermaßen zerbrechliche wie aggressive Imperium der Transzendenz zögerte nie, für seinen universalen Führungsanspruch Völker zu ermorden, Ethnien auszulöschen und die ökologischen Ressourcen auszuschöpfen. Das Weltende aufzuschieben heisst für Krenak, den Schlusskampf aufzuschieben zwischen jenen, die Bruno Latour die «Humanwesen», d.h. die arroganten Sklaven eines transzendenten Imperiums, und die «Erdverbundenen» nennt. Jene letzteren übernehmen die Rolle des Schutzwalls gegen die Ausdehnung der Wüste oder auch die «Greuel der Verwüstung», um auf einen Ausdruck der Feinde der Transzendenz zurück zu greifen, der leider hervorragend jene Katastrophe beschreibt, die der herrschende Techno-Kapitalismus eingeleitet hat. Das «Ende der Welt» – des Lebens, des Planeten, des Sonnensystems etc. – ist, wie wir wissen, unvermeidlich. Wir erinnern den berühmten Satz von Levi-Strauss «Die Welt begann ohne den Menschen und wird auch ohne ihn enden».

Es bleibt noch herauszufinden, ob wir ausreichend Vorstellungsgabe und Kraft haben, um das Ende unserer Welten, das heisst auch das Ende unserer eigenen Gattung, aufzuhalten. Denn es deutet doch vieles darauf hin, dass die Tage jener «Zivilisation», die aus der Trennung von Immanenz und Transzendenz herausgewachsen erwachsen ist, bald gezählt sind. Wer weiss, vielleicht sind wir an der Schwelle zu einer neuen Achsenzeit?

 


 

* Das polemische aber nützliche Konzept der «Achsenzeit» von Karl Jaspers wurde unter vielen anderen Autoren von Eisenstadt, Bellah, Gauchet aufgenommen. Es bezieht sich auf eine vermutete intellektuelle «Mutation», die in verschiedenen euroasiatischen Gesellschaften zwischen dem 8 und 3 Jhd. vor unserer Zeitrechnung stattgefunden haben soll und die u.a. den jüdischen Prophetismus, die griechische Philosophie, den indischen Buddhismus hervorgebracht hat. Siehe auch die kürzlich erschienene Monographie von Alan Strathern, Unearthly Powers, Religious and Political Change in World History (Cambridge, U.P., 2019).

 

Aus dem Portugiesischen: Astrid Habiba Kreszmeier
Veröffentlichung dieser Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors