«Aus wissenschaftlicher Sicht handelt es sich hier um einen verwickelten Tatbestand, wo es sich um Dinge handelt, über die man nicht laut spricht, um sich nicht gedankenlosem Spotte auszusetzen», schreibt C.G. Jung in seinem Buch über Okkultismus, wo er sich mit wissenschaftlich nicht erklärbaren Ereignissen befasst, und er äussert sein Erstaunen darüber, wie viele Leute Erfahrungen dieser Art gemacht haben und wie sorgsam das Unerklärliche gehütet wird. Weil solche Ereignisse nicht reproduzierbar sind, ergäbe ein Erfassen «nur eine chaotische Kuriositätensammlung, wie in jenen alten Naturalienkabinetten, wo das Horn des Unicorn und eingetrocknete Meerfräulein zu finden waren».1)
Dass ein Meerfräulein sich ganz lebendig zeigen kann, davon berichtet der Anthropologe Lindsay Hale, Professor an der Universität von Texas in Austin. Er beschreibt in seinem Buch Hearing the Mermaid’s Song, wie er anlässlich seiner Forschungsarbeiten zur afroamerikanischen Religion in Rio de Janeiro der Meeresgöttin Yemanjá begegnete. Er erzählt, wie er abends auf einem Felsen am Meer sass und sie singen hörte, und davon seltsam ergriffen wurde. Das Erlebnis war so stark, dass er statt wie geplant ein paar Wochen viele Jahre in Brasilien blieb, um die Umbanda-Religion in ihrer Tiefe zu erforschen.2)
Wir sitzen mit Freunden an dem schönen Ort, wo die Limmat aus dem Zürichsee fliesst, und bewundern das schöne klare Wasser. Gerade aus Griechenland zurückgekehrt, erzählte ich von den ebenfalls wunderschön klaren Wassern der Ägäis. Die mit uns am Tisch sitzende Efi – eine in Zürich lebende Griechin – frägt mich, was mich den so anzieht am Meer. Nach kurzem Zögern antwortete ich – wir unterhielten uns in englisch – «die Mermaid». Im mythologischen Griechenland ist die herrschende Meeresgottheit allerdings männlich. Wenn wir sie als weiblich sehen wollen, meinte Efi, müsste es Poseidoneia heissen.
Nur die griechischen Götter haben es geschafft, nach der Machtübernahme des christlichen Gottes im Abendland weiter zu bestehen. In der monotheistischen Kleinfamilie des katholischen Himmels durfte als weibliche Göttlichkeit nur Maria sein. Den Schaumgeborenen des Meeres, den Mermaids, Meeresjungfrauen und Serenas, wurde das Anlanden untersagt. Allerdings ist die Trennung zwischen der sakralen Mutter (la mère) und dem profanen Meer (la mer) nur teilweise gelungen. So feiert das mehrheitlich katholische brasilianische Volk den Tag der afroamerikanischen Meeresgottheit Jemanja jedes Jahr am 2.Februar als grosses Volksfest am Meer. Die Menschen tragen weisse Kleider, bringen Blumen, tanzen, singen Lieder und bitten Jemanja um den Segen.
Die Kontaktpflege zur „Mehr-als-Menschlichen Welt“ – nicht nur den Kräften des Meeres, sondern auch des Waldes, der Flüsse, der Berge – wurde von vielen Menschen trotz dem patriarchalen, monotheistischen Diktat über die letzten paar Jahrtausende der Menschheitsgeschichte aufrechterhalten und wird vor allem von indigenen Völkern als Kultur weiterhin gepflegt. Das Hüten und die Weitergabe dieser Tradition einer Weltenbeziehung und der damit verbundenen heilsamen Wirkung hat sich auch das Sympoi-Institut zur Aufgabe gemacht.
1) C.G. Jung, Synchronizität, Akausalität und Okkultismus, dtv, 2001
2) Lindsay Hale: Hearing the Mermaid’s Song. The Umbanda religion in Rio De Janeiro, Albuquerque, NM, 2009.