Vieles um jenen Mann, der vor fünftausend Jahren in den Ostalpen unterwegs war, ist gut erforscht und wissenschaftlich belegt, aber es bleiben auch einige Rätsel. So ist nicht geklärt, weshalb Ötzi einen unfertigen Bogen aus Eibenholz mit sich trug – ein unnützer Ballast auf einer Tour, die ihn über Bergpässe führte.

Aktuelle archäologische Funde im schweizerischen Muotatal zeigen, dass es ab dem Ende der letzten Eiszeit üblich war, dass Menschen lange Stecken zurücklegten und dabei Gebirgspässe überquerten. Im sogenannten Flözerbändli fanden die Archäologen Urs Leuzinger und Walter Imhof Gegenstände; unter anderem aus dem Kleinwalsertal, aus dem oberen Rheintal und aus dem Südtessin. Den Weg ins Muotatal fanden die Artefakte über den Kinkels-, den Panixer-, den Pragel- und den Gotthardpass. Aber was hat denn diese Menschen bewegt, solche weiten Wanderungen zu machen? Nahrungssuche kann es nicht gewesen sein, zum Zeitpunkt der zurückgehenden Gletscher waren die Nahrungsvorkommen überall gleich. Was, wenn die Leute sich einfach gegenseitig besuchten – und dabei Geschenke mitbrachten?

Das Reisemotiv der Überbringung eines Geschenks kennen wir von den Sammler-Jäger-Kulturen des in der der Kalahari lebenden Volkes der San. Dieses pflegt einen Brauch des Austauschs von »Nonfood-Präsenten« wie Schmuck oder Pfeilspitzen. Das nennt sich Xaro. Jedes Individuum pflegt einen persönlichen Freundeskreis von durchschnittlich fünfzehn Xaro-Freundschaften. Die Ethnologin Polly Wiessner konnte miterleben, wie ein San, als in den Erzählungen am abendlichen Lagerfeuer einer seiner Xaro-Partner erwähnt wurde, so von Sehnsucht gepackt wurde, dass er noch in derselben Nacht aufgebrochen ist, jenen Menschen zu besuchen. Und sie hat in ihren Forschungen festgestellt, dass die Wohndistanzen der Xaropartner zwischen 30 und 200 Kilometer betragen konnten.

So wie Ötzi wahrscheinlich allein unterwegs war, ist auch dieser San-Mensch alleine durch die Kalahari gewandert. Aber er kam von einem gemeinschaftlichen Lagerfeuer, und er wird sich an seinem Ziel wieder an ein Feuer setzen und Geschichten erzählen und hören.

So kann man sich die Geschichte von Ötzi auch vorstellen: In einer Gruppe am Feuer sitzend und an seinem Bogen schnitzend überkommt ihn plötzlich der Impuls, aufzubrechen und einen befreundeten Menschen jenseits der Berge zu besuchen. Offenbar hatte Ötzi aber auch mindestens einen Feind – von einem Pfeil getroffen, musste er in den Bergen sein Leben lassen. Aber mit Gewissheit sind vor und nach ihm unzählige Ötzis und Ötzinnen auf derselben Route hinüber und herüber gewandert, um an einem einladenden Feuer Geschichten zu teilen.