Fürsorgliche Spezies

Vor 600'000 Jahren lebten in Europa die Heidelbergensis. Weil unsere paläolithischen Vorfahren sich für «Kopf statt Bauch»1) entschieden haben und sich von phosphatreicher und gekochter (also leichtverdaulicher) Nahrung ernährten, ist ihr Gehirn ständig gewachsen und hat die maximale Grösse erreicht. Aber nicht nur das Hirn, auch die Hände haben sich stark verändert. Die Stellung des menschlichen Daumens wurde anatomisch gegenübergestellt und die Menschen konnten dadurch eine hohle Hand machen und daraus Wasser trinken. 

Dieses gegenüber den Klettergreifern der Primaten pinzettenartige Präzisionswerkzeug erlaubte den Menschen komplexe Handgriffe. Mit ihren geistigen und manuellen Fähigkeiten hätten sie ohne weiteres chirurgische Eingriffe vollziehen können.

In Borneo entdeckten Archäologen das Skelett eines Mannes, der vor 31.000 Jahren eine heikle Operation überlebte: die Amputation seines Fusses. Auch in Frankreich entdeckten Forschende Hinweise auf eine Fussamputation, die ebenfalls vor etwa 31.000 Jahren durchgeführt wurde. Die Zeitgleichheit dieser chirurgischen Ereignisse in weit auseinanderliegenden Weltregionen könnte man gut dahin deuten, dass das Verfahren den Menschen schon weit länger bekannt war.

Im Muotatal fand man in einer 12‘000 Jahre alten Fundschicht die verkohlten Reste von Johanniskraut, eine Pflanze, die nachweislich für medizinischen Gebrauch ist. Und in einem Grab in Bad Dürrenberg haben Forscher eine Frau gefunden, die hier vor 9‘000 Jahren begraben wurde. Die Frau hatte mehrere körperliche Anomalien, unter anderem offene Stellen an den Schneidezähnen, die teilweise verheilt waren, was darauf hindeutet, dass sie in der Lage war, das Leiden medizinisch im Griff zu haben. Aufgrund der Grabbeigaben und der Schmückung der Frau nimmt man an, dass es sich um eine sehr geschätzte Person und in dem Fall wohl um eine erfolgreiche Heilerin handelte2)

In Spanien überlebte vor 4.500 Jahren eine Frau zwei Schädel-Operationen. „Um diese Operation durchführen zu können, musste die betroffene Person wahrscheinlich von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft stark immobilisiert oder zuvor mit einer psychoaktiven Substanz behandelt werden, die die Schmerzen linderte oder sie bewusstlos machte“, sagt der Wissenschaftler Díaz-Navarro.

Als Margaret Mead gefragt wurde, was ihrer Meinung nach als ersten Anzeichen unserer Zivilisation gewertet werden kann, sagte sie, „ein verheilter Knochen“. Ein Tier in der Wildnis könnte einen komplizierten Knochenbruch nicht überleben. 30‘000 Jahre Funde belegen jedoch, dass Menschen damals schon solche Unfälle überlebten. Das war nur dadurch möglich, dass andere da waren, um sich dieser Person anzunehmen.3) 

Zum Heilen gehört eben neben der medizinischen auch eine soziale Kompetenz. Die Vergleiche archäologischer Erkenntnisse mit den Ritualen indigener Völker geben uns eine Vorstellung über paläolithische Heilverfahren, wo die mehr-als-menschliche Welt – Tiere, Pflanzen, Mineralien, Elemente, Geister – immer auch Teil des Geschehens war. Neben der medizinischen und der sozialen verfügten die Menschen also auch über eine sympoietische Kompetenz.

https://sympoi.ch/erfahrung/rituelle-heiltage/

1) Yuval Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit

2) Haller/Michel, Das Rätsel der Schamanin

3)Annabelle Hirsch, Die Dinge, eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten