Heute ist der Tag 40 dieses Tagebuchs. Heute klappen wir es zu, lassen es ruhen und von den fortwährenden Geschehnissen der Zeit und ihren vielfältigen Stimmen überwachsen. Es darf also eine Art "Humus" werden. Lebendige, atmende, feuchte, duftende, genährt-nährende Erde.
"Was scheint dir hier und heute inmitten von all dem wesentlich?", fragt es in mir. Ich atme dann etwas tiefer. Ein, aus, -. Ich spüre das Gewicht meines Körpers am Sessel, am Boden und das Fliessen des Blutes und Rauschen des ganzen Wassers in mir. Ich fühle die Luft sanft an meiner Haut, mit ein bisschen Vorstellungskraft ist auch durch sie ständiger Austausch mit dem Rundherum wahrnehmbar. Auch das Pulsieren des Herzens taucht auf.
Mir scheint, als sei ein Lob an das körperliche, sinnliche Wahrnehmen, an die Intelligenz des Körpers jetzt wesentlich. Unsere menschlichen Körper haben sich in Millionen Jahren über das Zusammenleben miteinander und mit dem Raum entwickelt und unsere Körper wissen, dass sie andere Körper brauchen, um richtig intelligent zu sein. Ein Körper allein ist selten gescheit. Viele Körper voneinander isoliert auch nicht.
Die Intelligenz des Körpers ist anders gerichtet als die künstliche Intelligenz, um die heutzutage auch viele bemüht sind. Wenn wir ganz körperlich in der Welt sind, mit und anderen Menschen, dann riechen, schmecken, fühlen und "ahnen" wir.
Dieses "Ahnen", dieser "stumme Sinn" wie ihn Hannah Arendt andenkt, erschliesst sich nicht logisch, lässt sich nicht von Zahlen und Statistiken ableiten, es lässt sich nicht erlernen, nur üben, nur praktizieren. Dieses "Ahnen" stellt sich in und vor allem zwischen uns ein, (wenn wir ihm die Chance lassen) und es leitet uns hin zum nächsten sinnvollen Schritt, zur nächsten sinnvollen Bewegung. Dieses "Ahnen" warnt uns, ermutigt uns, inspiriert uns.
Dieses Ahnen braucht Praxis, es zerfällt, wenn wir allzu lange hinter Bildschirmen miteinander sprechen, es zerfällt wenn alles vorgegeben ist, es zerfällt in einer abstrakten, empirisch gesteuerten Welt.
So antworte ich mir heute auf diese Frage nach dem Wesentlichen: Lasst uns das Ahnen üben und lasst uns eine Welt gestalten, in der wir dieses Ahnen leben können.
Liebe mit-ahnende Tagebuchschreiber und Schreiberinnen, 16 an der Zahl, wir danken euch für euer spontanes Teilen eurer Geschichten. Sie füllen nun dieses Tagebuch, das vielleicht auch als ein kleines Zeitdokument gesehen sein kann. Wir freuen uns auf den Tag, wo wir einander auch in solch einem grossen Kreis wieder treffen können: an einem Feuer oder in einem Gastgarten, und wir uns beherzt umarmen können und lachen und Viva rufen und Saude, das ist portugiesisch und heisst Wohlsein ;-)
Habiba und Cito