Wann immer es mir möglich ist, gehe ich zur Ybbs, meinem Heimatfluss. Der Name Ybbs kommt aus vor-keltischer Zeit und heißt so viel wie „schnell fließend“. Ich empfinde mein eigenes Grundtempo als so etwas wie „schnell fließend“, aber wenn ich mit der Ybbs zusammentreffe, dann spüre ich, wie sich mein Tempo verlangsamt, manchmal für meine Begriffe fast gemächlich wird. Schnell fließend + schnell fließend = Entschleunigung? Für mich: ja!
Wann immer es mir möglich ist, gehe ich zur Ybbs. Nach manchen langen, stressigen Arbeitstagen habe ich nur rasch meine Arbeitssachen in die Ecke geschmissen, mir mein „Umteufigwand“ (Kleidung zum Herumteufeln;-) angezogen und bin die paar Minuten von meinem Haus zu einem meiner Meinung nach schönsten der vielen Plätze an der Ybbs gegangen. Die ersten Meter in einem hohen Tempo – je mehr innere Unruhe und Stress, desto schneller mein Tempo – und mit meist gesenktem Kopf, dann die letzte Biegung um die örtliche Tennishalle, und ich kann sie sehen und hören, die Ybbs. Sofort werde ich langsamer, schnaufe einmal durch und spüre, wie mein Atem tiefer wird. Ab da wird jeder Meter, den ich gehe, noch ein bisschen schöner. Die Forstheide, durch die ich gehe, ist ein Landschaftsschutzgebiet, eines der letzten Steppenheidegebiete Österreichs. Ich bin eingehüllt in eine Wolke von verschiedenen Vogelstimmen und stelle mir vor, wie die Wurzeln der uralten Bäume rund um mich ein Netz unter dem Boden bilden, auf dem ich gehe. Wie sie jeden meiner Schritte weiterleiten und mich führen. Noch ein paar Meter eine Böschung hinunter, und ich bin an der von der lokalen Bevölkerung seit Generationen „kleinen Meerwiese“ angelangt. Wann immer es mir möglich ist, sitze ich hier, sehe und höre die Ybbs, halte Zwiesprache mit ihr.
In den letzten Wochen hat sich daraus eine tägliche Gewohnheit entwickelt, deren heilende Wirkung ich nach und nach deutlicher spüre. Die ersten Tage im Homeoffice in der zweiten Märzwoche waren für mich noch stressiger als „normale“ Arbeitstage, ich hab einfach von Früh bis spät durchgearbeitet, weil es ja möglich war, mit dem PC vor der Nase. Und als es in meinem Kopf in Dauerschleife den Text von Herbert Grönemeyer abspulte „Ich dreh jetzt schon seit Stunden, hier so meine Runden. Es trommeln die Motoren, es dröhnt in meinen Ohren…“ und mein Tinnitus zu erschreckend hoher Lautstärke anschwoll, war mir klar, dass es so nicht weiterlaufen konnte. Ich machte mir einen Tagesplan, und ein Fixpunkt darin ist seitdem der tägliche Besuch bei der Ybbs. An manchen Tagen geh ich schon um 6 Uhr Früh zu ihr, wenn der Wald noch menschenleer ist, nichts zu hören ist als Vogelgezwitscher und ich den Enten beim Schwimmen zusehen kann. Ich bin begeistert vom Facettenreichtum der Ybbs: an tiefen Stellen ist das Wasser richtig schwarz, an anderen schimmert es türkisblau. Es gibt viele Strudel in der Ybbs, es macht hier richtiggehend Löcher ins Wasser. An manchen Stellen fließt sie wirklich schnell, an anderen Stellen wiederum dreht sich die Fließrichtung um, das Kehrwasser zeigt Stillstand an. Wer sich schon mal mit dem Kayak im Kehrwasser wiederfand weiß, wie viel Kraft es kostet, hier wieder herauszupaddeln! Und das Ybbswasser fühlt sich jeden Tag anders an – ich teste das bei so gut wie jedem Besuch, winters wie sommers. Auch heute ziehe ich mir die Schuhe aus, kremple die Hose hoch und steige hinein. Ich gebe sicher ein schräges Bild ab: Mit Haube und Anorak, aber barfuß und mit hochgekrempelter Hose stehe ich im Wasser ;-). „Im Naturraum Wasser haben alle vier naturtherapeutischen Grundprinzipien Platz“ schreibt Habiba in ihrem Buch „Systemische Naturtherapie“, und ich habe jedes einzelne davon hier schon erlebt: Die Erfahrung der Lebenszugehörigkeit als Basis, das Ziehenlassen, die Integration ebenso wie die Anbindung und Einmittung. Heute hat es 1 Grad Lufttemperatur, das Wasser ist saukalt, ich atme bewusst langsam tief ein und aus. Die Kälte fängt an zu schmerzen, das Wasser „beißt“ fast, aber ich zögere es noch einen Moment hinaus, bis ich es nicht mehr aushalte und mich ans Ufer setze. Ich lass meine Füße an der Luft trocknen und schau in das an mir vorbeiziehende Wasser. In Gedanken geb ich ihm alles mit, was an Schwere in mir ist. Ich spüre meine Füße prickeln und mich selbst lebendig. Ich träume von den warmen Tagen, an denen ich hier wieder schwimmen gehen kann. Ich träume von den Tagen, an denen ich hier wieder mit Freunden an einem Feuer sitzen kann – ohne Gedanken an Virus und Krankheit. Und ich träume von einer ganz besonderen Reise: Von hier, der „kleinen Meerwiese“, bis zur Quelle der Ybbs zu gehen! Ich kenne diesen Fluß gut, hab ihn an vielen verschiedenen Stellen - auch an seiner Quelle - schon besucht, an seinem Ufer geschlafen, aber ich hab noch nie den Weg von hier zu seinem Ursprung gemacht. Es sind mehr als 100 Kilometer ins benachbarte Bundesland Steiermark, die Quelle liegt ganz versteckt im Gebiet des Zellerhutes, und die Ybbs heißt dort noch Ois. Ich zwinkere der Ybbs zu und sage: „Versprochen, ich mach`s!“