Stadtnotizen

4. September 2020. Es ist der wahrscheinlich letzte heisse Tag dieses Sommers. Ich sitze mittags im lichten Schatten alter Linden im Gastgarten des capperi, einem meiner liebsten Lokale der Stadt. In einem Radiobeitrag heute morgen wurden urbane Bäume der Zukunft vorgestellt. Sie sollen uns in den kommenden überhitzten Sommern ausreichend Schatten spenden. Geweihbaum, Schnurbaum und Gleditschie zum Beispiel. Diese Bäume haben besondere Strategien, heißt es, insbesondere in Städten, mit Hitzeperioden besser zurecht zu kommen, als Rosskastanie, Linde oder Bergahorn. In den Alpenländern sind Bäume nicht nur erhöhten Temperaturen, längeren Trockenperioden und Starkregen ausgesetzt, sie müssen auch einen kalten Winter überstehen können. Es braucht also multiple Anpassungsleistungen. Und der Geweihbaum hat sich da offenbar einen guten Ruf erworben. War er bisher nur in Kanada und den USA verbreitet, ist er jetzt als nördlicher Migrant des Klimawandels auch in Europa als Straßenbaum willkommen - er kann hoch wachsen und zugleich mit sehr beengten Wurzelverhältnissen auskommen.

Anders die Kaper, mediterrane Namensgeberin dieser Trattoria - ihr dorniger Strauch hat ein dichtes Wurzelwerk und fällt als Pflanze förmlich über den Boden, oft ein Fels, aus dem sie hervorbricht. Ihre Blüten sind wunderschön, weiß und zart lila. Sie blühen nur einige Stunden lang von morgens bis mittags (oder garnicht, wenn die Knospe geerntet wird, um sie pikant einzulegen).

Gleich drüben, am benachbarten Mariahilferplatz habe ich vorhin im Büchersegler  meine bestellten Bücher abgeholt. Jetzt schiebe ich Laptop und Espresso zur Seite und breite sie auf dem verwitterten Holztisch aus.

Das Capperi und der Büchersegler - ein Familienbetrieb eines bereits älteren Ehepaares, und ein Einzelunternehmen einer jungen Frau - hätten den Covid Lockdown im Frühjahr beinahe nicht überlebt. Dass das doch gelungen ist, gehört zu den schönen und ermutigenden Erfahrungen aus dieser Zeit. Stefania hat weiterhin ihre Ravioloni, Carne alla pizzaiola und Tortini di patate zubereitet und sie mittags über die Gasse verkauft. Bea ist mit dem Rad durch die Stadt gekreuzt und hat Bücher zugestellt. Wir, die Stamm-Kund*innen, haben so viel gelesen und italienisch gegessen wie uns die eigene, oft prekäre, Lage erlaubt hat. Gerade hier im Viertel gibt es einige solcher Geschichten zu erzählen.

Vielleicht kein Zufall, dass dieser Ort stadtgeschichtlich eher den Unterprivilegierten gehört hat. Hier, auf der rechten Seite des Stadtflusses, versammelte sich mit der Zeit alles, was drüben in der Inneren Stadt gestört hat: stinkende und lärmende Handwerksbetriebe, Krankenhäuser, Wirtshäuser und Herbergen für Durchreisende. Der Lendkai, direkt vor dem capperi, war zur Zeit der Monarchie Teil der bedeutenden Handelsroute von Wien nach Triest. Das Leben hier war sicher eher rauh, ungeschliffen, wild, laut. In der Gegenwart auch ein guter Ort für Diskurse der Kunst. Das, auch über die Stadt hinaus, vorderhand wegen seiner spektakulär organischen Architektur, bekannte Kunsthaus hat sich hier angesiedelt. Jährlich findet der Lendwirbel statt, ein gemeinschaftlich programmiertes Kulturfestival. Eine Vielfalt kleiner kreativ geführter Läden und Unternehmungen unterschiedlichster Branchen und ein Bauernmarkt prägen das Bild der Straßen und Plätze. In großen Städten sind Viertel wie dieses längst den Weg der Gentrifizierung gegangen, hier ist das noch nicht so. Die Mieten, auch zum Wohnen, sind nach wie vor leistbar.

In einer Gesellschaft im flirrenden Stress, wie unserer gegenwärtigen, ist der öffentliche Raum unserer Städte für Menschen unverzichtbar. Naturräume und Parks, aber eben auch Quartiere wie dieses, die den Charakter einer Agora der griechischen Polis bewahrt oder sich wiedererworben haben. (Evi Papanagiotou, die direkt neben dem Bauernmarkt das levantinische Lokal Bakaliko betreibt, hat den angeschlossenen Laden nicht zufällig Agora getauft).

Öffentlicher Raum lässt die Stadt und ihre Menschen atmen und sprechen, ganz physisch und metaphorisch. Er ermöglicht leibliche Begegnungen, Kommunikation, nicht privaten Rückzug, Sammlung und Öffnung, Streunen und Müßiggang, Tausch, Ästhetik. Welt kann sich hier verorten, Orte mit Welt verbinden - durch Geschmäcker, Gerüche, Stimmen, Worte, Rhythmen, Sprachen, Erzählungen, Erinnerungen, neuen Geschichten. Ein Raum für den Demos, das Volk.

Zu Jahresbeginn habe ich um den großen Tisch drinnen im Gastraum des capperi zu einem “erzähl_Mahl Tischgespräch” eingeladen. In unserer Mitte ein italienischer Eintopf aus Stefanias Küche, eine - oder zwei - gute Flaschen Wein und Erinnerungen und Erzählungen der Menschen - ältere und jüngere - die persönliches und gesellschaftliches Leben im Kontext von Sozialhistorie und Zeitgeschichte betrachten - so das Format. “Berufsbiografien von Frauen” war das Thema an dem Abend damals. Der geteilte Tisch, das gemeinsame Essen ist derzeit auch schon eine Erinnerung und seit Monaten nicht möglich. Ich denke das heute, hier, nur kurz. Neue Geschichten.

Mittlerweile ist es bald drei Uhr Nachmittags. Letzte Runde, ich bestelle noch einen Espresso. Stefania schließt das capperi und öffnet erst Abends um 18 Uhr wieder. Die letzten Monate sind nicht spurlos geblieben, Anpassungen, neue Strategien, sind nötig geworden, damit die Kraft reicht und das Unternehmen halbwegs wirtschaftlich bleibt.

Meine Bücher. Ich sammle sie wieder ein und will sie in meinen Rucksack packen. Diese Zeichnung da auf dem Cover. Wer bist du? Wovon sprichst du? Es ist das Buch, das ich vergessen hatte, ich wusste vorhin im Buchladen nicht mehr, es bestellt zu haben - “Erinnerung an das Feuer”. Eduardo Galeano erzählt darin die Geschichte Lateinamerikas. Er erzählt sie in hunderten kleinen Geschichten von “handelnden, ertragenden, besessenen und gestaltenden” Menschen.

“Arme Geschichte, sie hatte aufgehört zu atmen.” - schreibt er im Vorwort - “Erinnerung an das Feuer wird hoffentlich helfen können, der Geschichte ihren Atem und ihre Freiheit zurückzugeben und sie wieder zu Wort kommen zu lassen. Ich möchte mit ihr eine Unterhaltung führen, ihr Geheimnisse mitteilen, erfragen, aus welchen Lehmsorten sie erschaffen wurde, aus welchen Liebesakten und aus welchen Vergewaltigungen sie hervorgegangen ist.”

Ein Freund, denke ich mir zwei Tage später, morgens auf dem Sofa, das Buch in der Hand. Das Wetter hat, wie angekündigt, umgeschlagen, ein Herbststurm und starker Regen heute Nacht. Im capperi werden bald die Blätter von den Linden fallen.

Foto:
Graz, Gastgarten des "capperi"