Lebendig im Raum

Während vieler Jahre begleite ich Menschen aus Organisationen für ein Coaching in die Natur. Raus aus dem Bürokomplex und Durchatmen. Ein paar Schritte gehen und den Kopf lüften. Ein paar weitere Schritte, ein tiefer Seufzer und dann entlang des Flusses im Wald: «Ah das tut gut!» Das darf ich oft erleben.

Das erfrischende, erholsame Gefühl eines Spaziergangs in der einigermassen freien Natur kennen wir alle. Es hat eine gewisse Logik: Als Säugetiere haben wir uns in lebendiger Wechselseitigkeit mit unserer Nische entwickelt. Auf den Bäumen, in der Savanne, in den Halbhöhlen. In überschaubaren Gemeinschaften, sammelnd, jagend, fürsorglich zueinander schauend, stets angewiesen und in Koexistenz mit dem Raum, in dem wir gerade sind. Mit wachen, offenen Sinnen verbunden mit den Tieren, den Wasserläufen, den Früchten, den Jahreszeiten und dem Unterschlupf. Die existentielle Verbundenheit mit dem Raum war nicht nur überlebensnotwendig, sondern bedeutete schlichtweg in schöpferischer Wechselseitigkeit Leben zu gestalten.

Heute sehen viele Lebensrealitäten anders aus: In unseren funktional ausgerichteten Arbeitslandschaften und den eng getakteten Zeitstrukturen beschränkt sich die schöpferische Wechselseitigkeit auf die Glasscheiben, die uns mit der virtuellen Welt verbinden. Und auf die Kaffeemaschine, und auch nur dann, wenn wir selber Wasser und Bohnen nachfüllen müssen ;-). Oft fehlen in diesen Räumen die Resonanzerfahrungen, die lebendige Beziehung zum Raum und zu den Dingen, die, wie wir gesehen haben, einen wesentlichen Teil unseres Menschseins ausmachen. Isolationsdynamiken begleitet mit gesundheitlichen Folgen auf psychischer und körperlicher Ebene sind Folgen, die wir in vielen Organisationen beobachten können.

Hartmut Rosa, ein Soziologe, der sich intensiv mit den Beschleunigungsdynamiken in unseren Gesellschaften auseinandersetzt, spricht auch von einem Gefühl der Entfremdung. Die Dinge um uns herum sprechen nicht mehr mit uns, berühren uns nicht mehr, die Welt per Knopfdruck wird stumm. Interessant ist, dass er als «Gegenmittel» nicht die Entschleunigung sieht, sondern die Resonanzerfahrung. Eine Art und Weise durch den Alltag zu gehen, in der ich wahrnehme, was um mich herum ist. Eine Offenheit mich von Zeichen ansprechen und mich berühren ja sogar bewegen zu lassen. Die Emotion hat diese Bewegung im Wort enthalten und bekommt unter diesem Aspekt eine besondere Bedeutung.

«Resonanz verlangt, dass wir der Welt wieder zuhören, dass wir offen sind für die Stimmen der Menschen, der Dinge und der Natur.»
Hartmut Rosa, Resonanz, S. 316

Coachend unterwegs bleiben die Menschen manchmal stehen und schauen genauer hin. In die Weite der Landschaft oder auf das kleine Unscheinbare am Wegrand. Oft machen sie dann ein Foto. Ich frage dann nach: «was siehst du?», «was gefällt Dir daran?» und dann «Und angenommen dieses Glitzern in den Bäumen hätte etwas mit Deinem Thema zu tun. Was erzählt es Dir?»

«Wo stehst Du grad?» oder «wie und in welche Richtung wollen wir weitergehen?» Wenn diese Fragen sich nicht nur auf den Coachingprozess beziehen, sondern auf das ganz konkrete «hier stehen» und Schritt für Schritt unterwegs sein in der Landschaft, fliesst eine andere Qualität der Lebendigkeit ein.