Zeichen lesen und Spuren folgen

Wir gehen dem Flusslauf entlang, hoch zu der grossen Quelle. Schon als wir aus dem Postauto gestiegen sind hat uns das kraftvolle Rauschen des stiebenden Bachs begrüsst. Meine Coachee ist mit dem Anliegen einer beruflichen Standortbestimmung auf mich zugekommen. Im Rahmen der online durchgeführten Auftragsklärung, wurde klar, dass wir gemeinsam ein Tagescoaching machen würden. Schon früh im Gespräch stellte ich die für ein klassisches Coaching Setting ungewöhnliche Frage: «Und wo, in welcher Landschaft, begleitet von welchen Elementen, möchtest Du mit Deinem Anliegen gerne unterwegs sein?» In diesem Fall war die Antwort sehr klar: «Wasser, ich möchte vom Wasser begleitet sein. Am liebsten hätte ich einen sprudelnden Bergbach.» Das ist ein klares Zeichen und mit dem gehen wir. Nach kurzem gedanklich-geographischem Mäandern war unser Ziel klar. So sind wir also mit dem Postauto angereist und machen uns auf den Weg. Das kraftvolle Rauschen verwandelt sich von der Begrüssung zu einem starken Ruf. «Ich möchte als erstes grad zum Bach gehen», meint meine Coachee und das tun wir. Wir gehen die paar Schritte zum Ufer und werden vom kühlen Gischt in Empfang genommen. Ich halte mich im Hintergrund, begrüsse dieses schöne, wilde Wesen, das da hingebungsvoll zu Tale rauscht. Die Frau, die ich heute begleiten darf, kniet sich ans Ufer und wäscht sich Hände und Gesicht. Als sie sich umdreht ist sie sehr berührt. Der Bergbach hat sie ergriffen. Das frische Bergwasser vermischt sich mit ein paar Tränen und sie meint mit zittriger Stimme: «Es ist wie ein nach Hause kommen».

Wenn Menschen auf diese oder ähnliche Weise aus dem Raum angesprochen, berührt, affiziert werden, sind das starke Resonanzphänomene. Diese Zeichen am Wegrand können im Coachingprozess als wesentliche Wegweiser dienen. Es sind dann nicht nur die Hypothesen im Kopf des Coachs oder die Informationen die wir auf der Sprachebene austauschen, die dem Prozess seinen Lauf geben, sondern die Impulse aus dem vielfältigen Beziehungsnetz des Raumes, die wir aufnehmen und uns ein Stück weit von ihnen leiten lassen. In unserem Beispiel, in der Begegnung mit dem Bach, entpuppen sich das Wasser, der stiebende Bach, der Gischt, die kleine und die grosse Quelle am Berg als kraftvolle MitspielerInnen und ziehen sich als wesentliche Prozessfäden durch den Tag. Die Beziehung zu den verschiedenen Süsswasserqualitäten spülen viele Erinnerungen an vergessene Ressourcen der Coachee an die Oberfläche und bilden wichtige Inspirationsquellen für die Gestaltung der nächsten Schritte in eine mit tiefem Sinn erfüllte berufliche Zukunft. Die Topologie der Landschaft, der Bergwald und die mächtigen Berge um uns herum, sprechen natürlicherweise auch mit und geben Halt und Orientierung. Meine angewandten Coaching Methoden, in diesem Fall eine einfache Berufsbiographie-Linie und eine, mit Naturmaterialien gestaltetes Zukunftsbild, geben dem Coachingprozess Struktur und Ausrichtung.

Die Stimmung auf dem nach Hause Weg ist ruhig und still. Die Coachee, noch immer berührt, von den Begegnungen, sitzt gelassen und «selig» da. Sie sieht entspannt und schön aus und ihre Augen leuchten. Wir lassen uns mit Postauto und Zug aus den Bergen ins Tal, nach Hause tragen. Mit den Wassern, zu denen sie fortan eine noch innigere Beziehung pflegt und die sie in ihrem beruflichen Wirken weiter begleiten werden.