Leben und Wirken der beständig im lebendigen, handelnden Bezug und in der Wissenschaft zugleich forschenden Astrid Habiba Kreszmeier zeichnen ein Bild davon, was Sympoiesis als Welt- und Lebenshaltung bedeuten können. In Gemeinschaft etwas entstehen lassen, es nähren und stärken und dann an die nächste Generation weitergeben, das Geschaffene sympoietisch weiterwirken lassen, wenn die nächste Evolutionsstufe ruft. So habe ich das berufliche Wirken der Autorin, ihres Partners Hans-Peter Hufenus und ihrer Gefährt*innen stets wahrgenommen. Dieses Wirken und das daraus gewordene lebendige Wissen, seine Weisheit, sind eine der Quellen dieses Buches.
Sympoiesis – kein ganz gängiger Begriff, schon gar keiner, der gerade in inflationärer Verwendung wäre. Und gerade dadurch unverbraucht und inspirierend. Mit-Weben, könnte eine Übersetzung sein. Gemeinsam entstehen lassen. Im Miteinander zu Neuem gelangen. Inspirierend ist der Begriff der Sympoiesis, zumal er über das Nur-Menschliche hinaus verstanden sein will, weil er den Mensch-Welt-Bezug und den kreativen Prozess darin, seinen Reichtum in den Blick nimmt. In eine Fülle von praktischen Beispielen aus Beratung, Pädagogik und Therapie topografiert Kreszmeier die sympoietischen, dialogischen Wechselwirkungen zwischen uns Menschen und dem Mehr-Als-Menschlichen.
„Das, was zwischen Menschen geschieht, geschieht nie nur zwischen Menschen. Der Ort und seine Dinge sprechen immer mit.“ (S.74).
Einmal für diese Wahrnehmungsebene wachgerufen, werden Leser*innen eigene sympoietisch- dialogische Erfahrungen (wieder-)entdecken. Mir ging es nicht anders. An einem Tag, an dem ich wider meine innere Stimme von dort wegfuhr, wo ich hätte sein sollen, standen alle technischen Systeme, die ich bediente, auf „Rückfahrt“ oder „Stillstand“, eine verwirrende und zugleich zutiefst plausible Erfahrung.
Was aber geschieht bei diesem Mit-Sprechen und Mit-Wirken? Es ereignen sich nicht erzwingbare Prozesse, die in den vorherrschenden ziel- und planbaren Welt-Konstruktionen unseres Alltags denkbar fremd anmuten. Wie etwas erreichen, wenn das Umgebende mitwirkt und doch nicht steuerbar ist? „Natur-Dialoge“ gibt darauf „streunend“ (S. 21ff) Antworten.
Überhaupt – das Streunen. Im Streunen wird das Wirkprinzip des Dialogischen und der Sympoiesis unmittelbar erlebbar. Im Streunen folgen wir wechselnden Rufen und keinen vorher feststehendem Ziel. Wir entdecken und werden entdeckt. Und so streunt auch das Buch Natur-Dialoge dahin, bringt immer wieder Ausblicke auf Weiteres und Weiterführendes, noch zu Entdeckendes. Unvermittelt, UR-plötzlich sitzen wir im Kreis der Ahnen im Feuer und erleben einen Anhauch der Genealogie, in der wir stehen. Nicht als abstraktes Wissen, sondern als spürbare Erfahrung. Das gelingt, weil Kreszmeier nicht nur vieles weiß, sondern literarische und gestalterische Kraft besitzt und über eine große sprachliche Spannweite verfügt.
Wer nun fürchtet, in einem losen, assoziativen Narrativ verloren zu gehen, soll auch wissen, dass dem Streuen zugleich ein strukturiertes Konstruktionsprinzip zu Grunde liegt. Zunächst geht es in guter forschender Manier ans Fragen stellen. Unter der Überschrift „In Zeiten fortschreitender Erddemenz“ (S.12ff) werden unsere algorithmisierten, berechnungslogischen Daseinsformen einem buchstäblich leib- und erdverbundenen Sein gegenübergestellt. Was Fragen aufwirft, die zum Streunen einladen. Es folgt, nach einer kritischen Reflexion der Grenzziehungen in den therapeutischen Berufs-Feldern, der grundlegende Aufriss und die Einordnung des sympoietischen Ansatzes mit vielfältigen philosophischen, sozialwissenschaftlichen, ethnologischen und epistemologischen Querverweisen (die zum weiteren Forschen anregen). Kapitel 5 widmet sich Fallbeispielen aus dem reichen Fundus der Beraterin und Therapeutin, in denen Dialogizität und Entwicklungsprozesse in und mit „wilden“ Räumen exemplifiziert werden. Kapitel 6 lädt ein, neue Forschungen zu entdecken, denen sich die Autorin mit ihm Partner Hans-Peter Hufenus in jüngerer Zeit verschrieben hat. Menschheitsgeschichte, anthropologische Forschung und Mythenforschung werden miteinander in leibhaften Erfahrungsräumen in der Natur verschränkt und bieten einen freundlichen Blick auf das, was Mensch-Sein zutiefst ausmachen kann, wenn die Dialogizität wirken darf.
Wie Kreszmeier beschreibt, was das erd-nahe Zusammensein in kleinen Gruppen in den Individuen bewirkt, wie wir zu empathischen, hilfsbereiten Wesen werden können, einfach dadurch, dass wir unserer Bedingtheit und Bezogenheit mit den anderen und dem mehr-als-Menschlichen gewahr werden, das macht Mut, allen dagegenstehenden Kräften zum Trotz, die Überzeugung nicht fahren zu lassen, dass das Tier Mensch „im Grunde gut“ ist (wie der im Buch zitierte Historiker Rutger Bregmann darlegt).
Das letzte Kapitel widmet Kreszmeier dem Dialog mit Gesprächpartner*innen aus weiteren Handlungsfeldern. Dabei spielen nicht nur naheliegende, wie die Jugendhilfe oder Psychotherapie eine Rolle, sondern es geht auch um Organisationsentwicklung und visuelle Kommunikation, die im Buch ihren eigenen kommunikativen Beitrag leistet.
Natur-Dialoge ist ein reiches Buch geworden, das viele Fäden spinnt, die dazu einladen, aufgenommen zu werden. Er ist das weitgreifende Buch einer weisen Frau, die mit großer
Klarheit Rationalität, wissenschaftliche Forschung, Emotionalität, Körperlichkeit, Erdverbundenheit, das Mehr-als Menschliche mit dem Menschlichen, dessen Geschichten und Mythen und unsere prä-historischen Wurzeln zusammenzudenken und handelnd dafür immer neue Rahmen zu gestalten vermag. Das Buch stößt Resonanzen an und inspiriert in vielfältige Richtungen. Es liefert Ideen für praktische Umsetzung und lädt zum Ausprobieren ein. Und zum Wieder-Entdecken und Nach-Spüren, zum Aufnehmen neuer und fallen gelassener Fäden. Es ist ein logisches Buch geworden. Ein phänomenologisches, ein topologisches, ein mythologisches, ein ökologisches, ein transdisziplinäres Buch.
Im Schlusswort „Nachgang“ zitiert Kreszmeier Gregory Bateson, der dem Kontrollzwang bei unvollständigem Verstehen die Neugier auf die Welt und die Kraft der Schönheit entgegensetzt (S.259). Sie entfaltet sich im unmittelbaren, im leiblichen, im Handelnden Sein und Mit-Sein.
Die Welt der Repräsentationen, das aufkommende Metaversum, stillen weder den Hunger nach Unmittelbarkeit, noch sind sie öko-logisch in einem tiefen Sinn. „Erdverbundheit, Erinnerungspraxis und Resonanzkultur“ (S. 260) sind für Kreszmeier die Lernfelder für eine neue Praxis, die weit über Beratung und Therapie hinausgehen möge.