Stimmen der 83-Jährigen

In diesem Sommer werde ich 71 Jahre alt. Damit gehöre ich in dieser Corona-Zeit zur Alters-Risikogruppe. Zum ersten Mal in meinem Leben gehöre ich derselben Gruppe an wie meine Mutter, die im Sommer 96 wird. Zusammen kommen wir auf 167 Jahre, das ist ein Durchschnitt von 83,5. Die Corona-Sterbestatistiken* sagen, das Durchschnittsalter der an diesem Virus Gestorbenen sei 83. So sind wir zwei, meine Mutter und ich, eigentlich ziemlich repräsentativ.

Ich bin so froh, dass meine Mutter in einem gut und liebevoll geführten Seniorenheim leben kann. Sie ist dort gut aufgehoben und findet, dass sie ein schönes Leben hat. Leider hört sie fast nichts mehr. Was sie nicht an den Lippen ablesen kann, schreibe ich auf einen Notizblock. Sie braucht zur Fortbewegung inzwischen auch einen Rollator. Wir machen aber etwa zweimal pro Jahr einen Ausflug im Auto an einen Ort, der für sie wichtig ist; in die Berge, an den See, zu einem früheren Wohnort. Sie besuchte auch gerne ihr eigenes Grab, das ist ein reservierter Platz im Urnensammelgrab ihres Dorfes. Einmal war der Platz besonders schön mit seinen Blumen, sodass sich meine Mutter hinreissen liess zu sagen: «Jetzt freue ich mich richtig auf das Sterben». Ich wünsche ihr nur, dass ihr Sterben kein langes Leiden sein wird. Corona oder sonst etwas Natürliches, das ihren Körper sterben lässt, wäre für sie – so gesehen - ein Freund.

Nun hat man uns das gemeinsame Leben verboten. Wir sechs Kinder dürfen sie nicht mehr besuchen. Sie darf mit mir keine Ausflüge mehr machen und sie darf nicht mehr ihr Grab besuchen, weder lebendig noch tot; man hat ihr behördlich das Sterben verboten.

Dagegen müssen wir aufbegehren; wir zwei durchschnittlich 83-Jährigen. Wir wurden ja nicht gefragt, ob und wie wir geschützt sein wollen. Denn wenn man uns gefragt hätte, hätten wir geantwortet:
«Wir wollen sterben, wann und wie wir wollen, unter Beisein unserer geliebten Menschen. Aber jetzt, wo wir uns noch am Leben freuen könnten, möchten wir im leiblichen Kontakt miteinander und mit anderen sein dürfen. Wir wollen miteinander lachen und weinen, und über das Leben und über das Sterben reden. Und meine Mutter soll von den Lippen ablesen dürfen, die nicht hinter Gesichtsmasken verborgen sind. Wir wollen auf jeden Fall und absolut nicht, dass die Menschen in Isolation gehalten werden. Wir wollen in einem demokratischen Land leben, wo alt und jung sich frei bewegen können. Und wir wollen auf keinen Fall, dass die Bewohner unseres Landes von Big Brother überwacht werden unter dem Vorbehalt, man müsse uns schützen.»

Das hätten wir gesagt, wenn wir gefragt worden wären.

PS: Corona-Statistiken siehe BAG, COVID19 epidemiologische Lage, vom 4.4.2020