Auf einmal hatte ich den Impuls, mich umzudrehen, und da lief er, der Coyote, auf leisen Pfoten, wie ertappt, und verschwand. Irgendwie musste er mir gefolgt sein. Die Spur am Boden zeigt, dass er unmittelbar hinter mir ging – wie lange schon? Ich war nun schon viele Tage unterwegs im Desolation Canyon; ein alter Abenteuertraum von mir, diesen Seitencanyon des Grand Canyons einmal zu begehen. Es war Ende Oktober und nachts schon unter null. Bald würde der Winter hereinbrechen, und wenn mir etwas geschähe, fände man mich erst nächstes Jahr, wenn überhaupt. «Spurlos verschwunden»; vom Steppenwolf aufgefressen. Das war vor etwa 30 Jahren, Handys gab’s damals noch nicht. Am elften Tag erreichte ich die Ortschaft Green River. Zehn Tage ohne ein anderes Wesen gesehen zu haben, nur den Steppenwolf. Vielleicht ging er – unsichtbar – die ganze Zeit mit mir? Vielleicht sind wir gar Freunde geworden? Gut habe ich ein Bild von ihm, es reicht ja der Abdruck seiner Pfote.
Menschen lieben Abenteuer. Es ist das Sammler-Jäger Gen der Sapiens, welches uns schon als Kind gerne durch den Wald streifen, Hütten bauen und Feuermachen liess; in der Freizeit wohlverstanden; ausserhalb der Freizeit galt es, die Kulturtechniken der Neuzeit zu erlernen. Zu den Kulturtechniken der Sammler-Jäger gehörte auch die Kunst des Spurenlesens, was ich als Jugendlicher, angeregt durch das berühmte Buch von Tom Brown Junior Buch «The Tracker» gerne betrieb. Als «Tracker» musste man nicht nur erkennen, von welchem Tier eine Spur ist, sondern auch in welche Richtung sie geht und wie alt sie ist. Die Kunst des Trackings beinhaltete aber nicht nur Spuren lesen, sondern auch die Kunst, Spuren zu hinterlassen, damit einem die Freunde finden. Und ebenso interessant: die Kunst, Spuren zu verwischen, dass einem die Feinde nicht folgen können.
Aus dem Tracking wurde dann Trekking. Der Name der neuen Abenteuerform leitete sich ursprünglich von den Planwagentecks der Buuren in Südafrika ab und wurde dann auch für die jene amerikanischen Siedlern verwendet, die in ihren Planwagen vor 175 Jahren die ersten grossen Trecks auf dem berüchtigten Oregon Trail Richtung Kalifornien wagten. Damals waren das noch richtige Abenteuer, die Menschen wussten nicht, was vor ihnen lag. Welcher Pass führt auf die andere Seite? Welche Schlucht hat einen Ausgang? Wo lauern Indianer? In jenen Pionierzeiten war das Ungewisse ein Normalzustand. Heute sagt uns das Navi, welche Route wir wählen sollen, wo ein Stau zu erwarten ist und wann wir am Ziel ankommen werden. Die Welt ist planbar geworden. Meinen damaligen Beruf als Trekkingleiter habe ich an den Nagel gehängt, weil die Menschen immer durchorganisiertere und auf das Detail geplanten Abenteuerreisen wollten. Das war langweilig.
Trekking wurde Mode – sogar der gute alte Wanderschuh erhielt diesen Namen. Alle wollten auf einmal in die Natur. Natürlich total gut ausgerüstet, dass einem nicht passieren konnte. Weil das auf einmal so viele waren, mussten Regeln aufgestellt werden. Eine hiess: „Leave no trace“, “hinterlass keine Spuren“. Natürlich fand ich das auch gut, dass keine Powerdrink-Dosen herumliegen, keine weissleuchtenden Tempotaschentücher und keine Taschenlampenbatterien. Aber manchmal fand ich es halt – vor allem in weit abgelegenen und unwegsamen Gebieten – auch schön, die Spuren von anderen sehen. Was für ein schöner Schlafplatz gewählt wurde, wie gut das Feuerchen gebrannt hat. Ich versuche dann zu erraten, welcher meiner Freunde das vielleicht war.
Und dann kam Corona. Unhörbar schlich sich das Ungeheuer von hinten an uns heran. Was für ein Stress! Wir mit unserer gut organisierten und vorausplanbaren Welt sehen uns plötzlich einem Ding gegenüber, das unsichtbar herumgeht, Tag und Nacht, unheimlich. Wo wird es das nächste Mal zuschlagen, wen wird es treffen? Weder Google Earth noch Drohnen noch biometrische Apparate können es ausfindig machen. Gerüchte machen die Runde und die Menschen verrückt. Sie haben Angst und bleiben zuhause. Wir müssen uns einsperren und das Ungeheuer aussperren! Aber wie? Am besten, wir sperren einfach die Grenzen. Dann ist das Böse draussen. Unsere Obrigkeiten versuchen ja ihr Bestens und verfügen Erlasse, die sich auf Experten stützen, welche manchmal treffen und genauso oft daneben liegen, wie in der Lotterie. Oder wie auf jenen Trecks der Pioniere. Nur ist uns der Pioniergeist abhandengekommen und wir tappen im Leeren, während sich die Ladengestelle leeren und die Spitalbetten leer bleiben.
Nun müssen wir zusammenhalten. Gemeinsam sind wir stark. Wir werden es zu fassen kriegen, das Ungeheuer. Gut haben wir in der Not unsere Führer, denen wir uns anvertrauen können und die uns zum Endsieg führen werden. Und gut haben wir unsere Waffenschmiede, unsere Ingenieure, die für uns das Tracing-App entwickeln. Die alte Freiheit des Kaufens ist schon in Aussicht gestellt, nur müssen wir die Gesichtsmaske dafür in Kauf nehmen. Das machen wir gerne - man muss ja nicht unbedingt reden, weil man ja auch nicht gefragt wird. Das Tracing App ist uns schon etwas unheimlich – wird es die Spuren des Ungeheuers wirklich sichtbar machen? Oder nur unsere eigenen? Wie können wir wissen, ob die, die unsere Spuren tracen Freunde oder Feinde sind? Sollen wir unsere Spuren hinterlassen, damit uns die Freunde finden, oder sie verwischen, dass uns die Feinde nicht aufstöbern. Oder sollen wir besser gar keine Spuren hinterlassen – leave no trace?
Nun bin ich 70 Jahre alt geworden, trotz der vielen gefahrvollen Abenteuer, die das Leben für mich bereithielt. Und ich bin nach wie vor nicht darauf erpicht, spurlos zu verschwinden. Ich möchte meine Spuren hinterlassen, auch für eine Nachwelt. Und wenn man mich dazu zwingt, ein Tracing-App zu tragen, dann soll es Zeuge davon werden, dass ich mich mit Freunden am Feuer treffen, dass ich meine Lieben zur Begrüssung umarme, dass ich unbekannte Pässe und ungewisse Schluchten begehe und mich dem Risiko aussetze, von Staatswächtern überfallen zu werden, nur um mich mit Freunden jenseits der Grenzen zu treffen. Sorry, bin halt ein alter 68er, ein Steppenwolf – «born to be wild».