Wind of Change

Am 10. September 1989 öffnete Ungarn seine Grenze nach Österreich und bereits in der ersten Nacht reisten 10.000 DDR-Bürger aus. Ich habe sie nicht verstanden damals, diese Menschen, ich fühlte mich wohl in unserem Land und glaubte der ideologischen Propagana, die diese Menschen zu Staatsfeinden, Feiglingen und Verrätern machte. 
Aber die Fernsehbilder von diesen Massenaufläufen in den Botschaften faszinierten mich, es geschah etwas Spannendes, etwas Besonderes, soviel war auch mir klar. Mit meinen knapp 14 Jahren begann ich, täglich die Nachrichtensendungen im Fernsehen mitzuschauen, ganz freiwillig. Ich schaute, als suchte ich etwas, als wäre ein Detail besonders wichtig, das ich herausfinden musste und trotz politisch korrektem Unverständnis für das Verhalten dieser Menschen, schaute ich im Herzen auch in einer Art unbestimmter Hoffnung.

Wenn es damals schon Internet und whatsAPP gegeben hätten, dann wäre ich sicher ähnlich viel an den Geräten wie im Moment. Was suche ich, während ich heute schon das fünfte Mal die Corona-Statisik der Johns Hopkins University anklicke? Eine Sensation, plötzliche Fallzahlenentwicklung nach unten oder oben, welche Idee treibt mich?

In den folgenden Wochen verdichteten sich die Ereignisse. Zuerst geschah Ungewöhnliches, dann Unerwartetes und dann Undenkbares. Die Genehmigung der Ausreise der vielen Menschen in der Botschaft in Prag war noch einige Wochen vorher ausserhalb des denkbaren Rahmens gewesen, allein dass sie dort über Wochen die Botschaft besetzten, war unfassbar. Der Zug querte nur 2 Kilometer von meinem Elternhaus entfernt das so genannte Gleisdreieck, die Durchfahrt war von schweren Ausschreitungen begleitet: Der Zug musste diese Stelle langsam passieren und es versuchten vielen Menschen aufzuspringen. Ich habe ein inneres Bild davon, sehe diesen Zug langsam vorbeifahren, sehe die Arme, die aus den Fenstern winken, höre das Jubeln und Klatschen von drinnen und draussen und spüre gleichzeitig die Angst drinnen und draussen. Niemand wusste wirklich, wohin dieser Zug fuhr: Geschah hier Weltbewegendes oder fuhren diese Menschen ihrer sang- und klanglosen Verhaftung entgegen? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich am späten Abend des 1. Oktober wirklich dort war, da ist wohl meine Vorstellungskraft am Werk, aber die Szenerie erinnere ich dennoch irgendwie. 

Diese Mischung aus hoffnungsvoller Faszination und atemraubender Anspannung, die damals im Raum war, erlebe ich auch heute. Ich bin Mitte März nach Brasilien geflogen, schon in Corona-Zeiten, aber noch fast ohne Beschränkungen. Innerhalb der nächsten vier Tage hat sich die Welt verändert, die Schweiz wurde stillgelegt, der Flugverkehr drastisch reduziert und die Corona-Welle erreichte Brasilien. Ich konnte mich kaum mehr retten vor wagen Meldungen, besorgten Nachfragen von Freunden, Umbuchungsstress und der Frage, welche Informationen welchen Wahrheitsgehalt hatten? Meine eigene Wahrnehmung war von der digitalen Flutung überwallt und schliesslich für einige Stunden ausser Gefecht gesetzt. Das emotionale Wellenreiten zwischen Angst und Vertrauen, zwischen Panikmache und realen Fallzahlen und der Frage, ob wir auf eine Katastrophe oder einen nicht für möglich gehaltenen Weltenwandel zusteuern, war unglaublich anstrengend. Heute ca. 10 Tage nach meiner Rückkehr frage ich mich, ob ich wirklich dort war oder alles nur geträumt habe? Anhand meiner Kontoauszüge lässt sich das noch ganz gut beweisen, aber das „Gefühlssurfing“ wird mir wohl auch in 30 Jahren noch in Erinnerung sein.

Die Meldungen überholten sich. Was heute noch eine Sensation war, war eine Woche später längst von noch Unwirklicherem übertrumpft. Die Menschen fassten Mut für politisches Handeln: Ausgehend von Leipzig begannen in vielen Städten die so genannten Montagsdemos. Sie gingen einfach auf die Strasse, schwiegen zunächst, wagten Transparente hochzuhalten und riefen schliesslich „Freiheit.“ und irgendwann sogar „Stasi raus“. Das war lebensgefährlich! oder zumindest eine Tat, die zur sicheren sozialen, beruflichen und ideologischen Isolierung führte; mit so einem Satz war die Verhaftung sicher oder mindestens das Ende aller Chancen der gesamten Familie. Aber sie taten es dennoch, was gab diesen Menschen die Kraft, wer schenkte hier Vertrauen und Mut? Die Impulse zu den Demos kamen aus kirchlichen Kreisen, hier wird der Glaube, die spirituelle Verbundenheit Unterstützung gewesen sein. In den immer grösseren Kreisen aber, kann ich mir die Kraft nur aus der Verbundenheit der Menschen in einer „Schicksals-Gemeinschaft“ erklären. Noch heute nennen ehemalige DDR-Bürger ihre Verbundenheit, die gegenseitige Solidarität als Unterschied zwischen damals und heute. Mir war das lange ein Rätsel, weil sie sich ja bekanntermassen vielfältig gegenseitig misstrauten und bespitzelten. Aber offenbar waren 2 Monate des „Wir sind das Volk.“ so prägend, dass es 40 Jahre Erfahrung rückwirkend verblassen lässt und 30 Folgejahre als Gemeinschaftsnarration erhalten bleibt.

Unsere kleine Reisegruppe hat viel geteilt in Brasilien, Sorgen, Ängste, Stimmungen, Geld und Knowhow. Wir haben auch sehr viel, sehr herzhaft gelacht miteinander, unerwartet viel, angesichts der ernsten Lage. Wir waren in engem Austausch, haben uns Kraft gegeben, Mut gemacht, an den Rand der Verzweiflung gebracht, diskutiert, geschwiegen, cool getan, Spannung ausgehalten, uns im Hoch und Tief erlebt. Wir haben gemeinsam Rituale gefeiert, noch dort vor Ort und dann hier nach der Heimkehr. Diese Verbundenheit hat mein Vertrauen genährt, das Aufgehobensein in einer Krise unter den Menschen sowie die Verbundenheit zur spirituellen Welt. Ich habe einen anderen Boden, eine andere Zuversicht also vor meiner Abreise. Und ich frage mich: Ist es wirklich klug, wenn alle allein in ihren Wohnungen sitzen, wenn wir beim Spaziergang einen grossen Bogen umeinander machen und im Supermarkt zu Boden oder auf die Tomaten starren? Wer soll uns Mut machen, wenn nicht der Blick oder die Anwesenheit oder die Worte der Verbundenheit?

Am 9. November 1989 kurz vor 19h verkündete Günter Schabovski die „Maueröffnung“, um 20h sahen wir in der Tagesschau bereits Bilder von Menschen, die auf der Mauer tanzten. Ich wusste noch immer nicht weshalb man so froh sein musste, auf dieser Mauer zu stehen und über die Grenze zu kommen, ich verstand den Jubeltaumel nicht, stattdessen machte ich mir Sorgen um diese Menschen. Würden sie zurückkommen können, würden nicht die Grenzen bald wieder schliessen oder die Grenztruppen mit Verhaftungen beginnen? So dumm und leichtsinnig konnte man doch gar nicht sein!

Beim Abflug nach Brasilien dachte ich noch, dass ich „zur Not ein paar Wochen länger in Brasilien bleibe, das wollte ich schon immer.“ Als dann der Rückruf des Auswärtigen Amtes kam und die Gerüchte von geschlossenen Flughäfen sich mehrten, verliess mich dieser (Über-)Mut und ich hoffte nur noch, möglichst schnell wieder nach Hause zu kommen. Keine sehr erholsame Vorstellung, hier in Quarantäne zu kommen oder gar krank zu werden und nicht zurück zu können.

Ein Jahr nach der Wende hatten wir ein neues Schulsystem, zahlten mit D-Mark, ich hatte mich statt Jugendweihe konfirmieren lassen, mein Vater war in Kurzarbeit, die Volljährigen hatten frei gewählt, wir waren im Bayrischen Wald in den Ferien gewesen und feierten am 3. Oktober Wiedervereinigung. Das war so nicht abzusehen, überhaupt und ganz und gar nicht. Zweifelsfrei unvorstellbar, ein Kopfstand der Welt. Es hat sich nicht alles zum Guten verändert seither, wir sind auch nicht aus dem Elend in die heile Welt gekommen, weder noch. Aber es war Vieles möglich in den ersten Jahren nach diesem überraschenden Umbruch, zunächst ein lockerer Stein in der Mauer, dann ihr Fall. Und dahinter eine andere Welt. Auch diese hat Potential für weiss und schwarz, Macht und Ohnmacht, Kluges und Dummes, Gemeinschaft und Isolation, Kooperation und Konkurrenz. Neben meinen hoffnungsvollen „Sensationsfernsehstunden“ erinnere ich mich auch an die Stimmung in unserer Schule: wie viel Mitbestimmung da für uns 15jährige plötzlich möglich war, wie wir eingeladen waren, das Neue mitzugestalten, fast wie in einer Projekt- oder Reformschule. Niemand wusste, wie „es geht“ oder „sein muss“, alle waren offen, im Kontakt und haben getan, was sie konnten, für klug hielten und was der Weltenmoment und die Gesellschaftsordnung an Freiraum zuliessen.

Neben der Sorge um ihre Gesundheit beschleicht die Menschen hierzulande zunehmend die Sorge um das Wirtschaftssystem, sie beschäftigen sich mit Verschwörungstheorien, Hyperinflation und der Frage, wie lange es wohl dauert, bis nach dem Lockdown alles wieder aufgestartet ist? Im Moment geht man noch vielfach von einem „zurück zur Normalität“ aus. Aber es gibt parallel auch viele Stimmen die hoffen dass wir Lernen, dass sich grössere Chancen für Wandel einstellen, das endlich ein neues Bewusstsein möglich wird, eines was über Kapitalmacht, Weltenausbeutung und Selbstoptimierung hinausreicht. Für einmal bin ich nicht die „Bedenkenträgerin“ in meinem persönlichen Umfeld, ich habe keine Angst vor einem wirtschaftlichen Grounding, sondern sehe den gesellschaftlichen Entwicklungen mit Gelassenheit entgegen, mit einer Art unbestimmter Hoffnung im Herzen:  Wenn die alte Normalität nicht zurückkehrt, stellt sich eine neue ein und dazwischen gibt es öffentlichen Raum für Gestaltung und Mitwirkung.

Wir alle wissen, was Menschen nach kollektiven Schicksalsschlägen leisten können und wie sie dann vielfach vertrauensvoll und konstruktiv zusammenwirken. Neben den kollektiven Traumata die wir tragen, ist auch das eine gemeinsame Erfahrung hier im deutschsprachigen Europa.