Seit einiger Zeit mache ich morgens diverse Übungen, um Rückenschmerzen vorzubeugen. Ich achte auch darauf, dass ich vitaminreich und einigermassen gesund esse, nicht übermässig viel Alkohol trinke, dass ich mich auch über meine Mini-Morgen-Fitness hinaus bewege, also irgendwie in Form bleibe. Ich kenne auch einige, die gehen sogar regelmässig ins Fitnessstudio oder Joggen. "In einem gesunden Körper wohnt doch ein gesunder Geist.", oder?
Als Jürg Brühlmann vor einigen Tagen hier in diesem Blog schrieb, wie es ihm beim Anblick der verbarrikadierten Grenze geht, hat mich das zunächst sehr ergriffen und später lange beschäftigt. Und zwar nicht wegen der Vorstellung der Situation an sich, sondern im sicheren, inneren Gefühl, dass mich dieses Bild nicht so abschrecken würde.
Ich habe eine konkrete Erfahrung von Begrenzung in einem Land, von Unfreiheit und Diktatur. Wie kann es sein, dass meine Demokratie-Alarmsysteme derzeit nicht so anschlagen, wie die von einigen Freunden? Ist meine Sozialisation der Begrenzung so fest sitzend, dass ich – auch wenn 2/3 meines Lebens in anderen Systemen stattfanden – nun zurückfalle in die kindliche Erfahrungen, ja auch "irgendwie behütet gewesen zu sein"? "Endlich wieder im Schutz des Systems", also in der vermeintlichen Sicherheit der engen Struktur eines Regimes?
Ich möchte es nicht glauben, aber mir fällt irgendwie keine andere Begründung ein. Und genau genommen geht es mir auch mit den anderen Einschränkungen so, ob Maskenpflicht oder Ausgangssperre. Ich bin schnell bereit, solche Vorgaben einzuhalten und zwar ohne sie über die konkrete Ansage hinaus zu prüfen; zum Beispiel auf dahinter liegende Machtausübung. Aber mir entgehen auch die Widerstände meiner Freunde nicht, ich lese die Kommentare hier im Tagebuch, höre die Diskussionen am Community-Tisch – die Besorgnis ist gross - und weil ich viel auf sie halte, die Freunde, glaube ich ihnen auch. Aber wie kann ich hier Anschluss halten?
Nach ein paar Stunden Geschichtsnachsinnen erinnere ich mich an das Wort "Meinungsfreiheit", für das 1989 und zu manch anderer Zeit schon viele Menschen Kopf und Kragen riskiert haben. Und weil ich weltpolitisch manchmal ein wenig ungebildet bin, habe ich die UN Menschenrechtskonventionen (verabschiedet 1948) gleich nachgeschlagen:
Artikel 19: Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.
Noch während ich lese fällt mir zum Recht die Pflicht ein, die beiden gehören doch immer irgendwie zusammen: "Meinungspflichtheit, Meinungsverpflichtung, Meinungspflicht... Genau Meinungspflicht!" Meinungsfreiheit meint neben dem Recht auch die Pflicht. Die Pflicht eine freie Meinung zu haben. Olala. Das klingt jetzt aber nicht mehr so geschenkmässig, wie ich die Meinungsfreiheit immer gesehen hatte. Eher nach Disziplin, ein bisschen trocken und anstrengend auch.
Ich denke an meine Morgenfitness und die inneren Motivationsgespräche, die ich immer führen muss, um es dann auch wirklich zu absolvieren, mein Programm. Das geht auch nicht von selbst. Und Hannah Arendt fällt mir ein, die hier seit mehreren Monaten liegt. Noch fast ungelesen. Sie würde mir die Leviten lesen wenn sie hören könnte, dass ich meine Meinungsfreiheit nicht zur Meinungspflicht mache; soviel habe ich schon in ihrer Einleitung verstanden.
Das Denken trainieren, mir eine Meinung formen, wie eine Handwerkerin aus Ton ein Gefäss. Das heisst Meinungsfreiheit. Nicht schlaff das Erstbeste nehmen, was sich im Hirn zeigt, auch nicht, wenn es schlüssig ist. Sich austauschen, auseinandersetzen, die eigene Meinung kund tun, vielfältige Informationen einholen, sich nicht mehr auskennen, stur bleiben und dann doch alles wieder verwerfen, in Aktuellem Lesen und in der Geschichte und Fragen stellen. Viele Fragen. Ohne Anspruch auf Antworten. Meinungsfitness wäre vielleicht der passendere Begriff, eine Art intellektuelles Zirkeltraining.
Interessant finde ich gerade, dass wir unsere Körper so vielfältig bearbeiten (wo wir sie doch kaum nutzen in den Büros) und massieren und rasieren und Meinung manchmal ein bisschen dem Zufall überlassen. Beim Essen entwickeln wir Menschen spezielle Vorlieben und sogar diverse Unverträglichkeiten und beim Denken schlucken wir, was aufgetischt wird? Wie lange stehen wir pro Tag vor dem Spiegel oder Kleiderregal und wie lange machen wir unser Meinungsbild schön?
Ich bin für die Einführung der Begriffe "Meinungspflichtenheft" oder "Mind-Toning-Workout" (je nach sprachlicher Vorliebe). Und weil ich persönlich – wie im Beispiel oben beschrieben – eine individuelle Meinungslosigkeitsvorbelastung habe, fühle ich mich in dieser Zeit jetzt besonders aufgerufen, hier etwas nachzusitzen. Als Meinungs- Reha-Massnahme gewissermassen. ;-)
PS 1: Gestern Abend wäre das Schreiben dieses Beitrags fast gescheitert, weil mich Konstantin Wecker einen Abend lang als Meinungs-Lehrer begleitet und fasziniert hat. Aber das wäre schon ein nächster Beitrag...
PS 2: Hier als Nachtrag noch eines dieser Corona-WhatsApp die derzeit kursieren, welches auf nicht ganz ernst gemeinte Weise aufzeigt wie wichtig es ist, selbst zu denken:
Eigentlich